Studie weist auf Defizite im staatlichen Schutz vor häuslicher Gewalt hin
Deutsche Hochschule der Polizei (Münster)
Zoom – Gesellschaft für prospektive Entwicklungen e.V. (Göttingen)
In Fällen häuslicher Gewalt gibt es in Deutschland ein prinzipiell gut abgestimmtes Schutzsystem: Nach dem Prinzip „Wer schlägt, der geht“ verweist die Polizei den Täter für zehn bis 14 Tage aus der Wohnung. Das Opfer kann in dieser Zeit einen Antrag nach Gewaltschutzgesetz stellen, um ein längeres Kontaktverbot oder die alleinige Zuweisung der gemeinsamen Wohnung zu erwirken. Während die einschlägigen Regelungen und Instrumente grundsätzlich allen Opfern offen stehen, zeigen sich in der Praxis deutliche Anwendungsprobleme und -defizite.
Pressemeldung zum 10.12.2016 - Tag der Menschenrechte
In einer aktuellen Studie (http://snap-eu.org/report/Report_Germany.pdf) haben die Deutsche Hochschule der Polizei (Münster) und Zoom – Gesellschaft für prospektive Entwicklungen e.V. (Göttingen) die Anwendung von polizeilichen Wegweisungen und Anordnungen nach Gewaltschutzgesetz in der Praxis untersucht. Das Projekt „Specific Needs and Protection Orders“ wurde im Daphne III-Programm der Europäischen Kommission gefördert und in Kooperation mit Partnerorganisationen aus Österreich, Polen und Portugal im Zeitraum von Oktober 2014 bis September 2016 durchgeführt.
In einer Befragung von 88 Personen aus Polizei, Justiz und Opferunterstützungseinrichtungen zu ihren Erfahrungen mit der praktischen Anwendung von Wohnungsverweisung und Gewaltschutzgesetz fand das Forschungsteam, dass Wegweisungen und Gewaltschutzgesetz lokal sehr unterschiedlich gehandhabt werden und darüber hinaus die Einhaltung von Schutzanordnungen vielfach nicht durchgesetzt wird. Diese Problematik verstärkt sich für manche Opfergruppen dadurch, dass die vorgesehenen Maßnahmen ihnen nicht zur Verfügung stehen oder in ihrer Lebenssituation nicht greifen, wie z. B. bei Gewaltbetroffenen mit Behinderungen und Unterstützungsbedarf, Migrantinnen/geflüchteten Frauen, Wohnungslosen und Müttern, die mit dem Täter gemeinsame Kinder haben.
Das Forschungsteam stellte fest, dass für Opfer, die gleichzeitig auf Pflege und Unterstützung durch den Partner angewiesen sind, die Anwendung dieser Schutzmaßnahmen häufig nicht in Frage kommt, wenn ohne den gewalttätigen Partner etwa der Umzug ins Pflegeheim oder Isolation droht bzw. die notwendige Unterstützung für eine autonome Lebensführung nicht zur Verfügung steht. Auch für viele Migrantinnen, insbesondere geflüchtete Frauen, kann eine räumliche Trennung teilweise nicht umgesetzt werden oder ist mit unerwünschten Konsequenzen verbunden, wenn etwa der eigene Aufenthaltsstatus vom Ehepartner abhängt oder eine Wohnsitzauflage für Opfer und Täter besteht. Und auch wenn gewaltbetroffene Frauen gemeinsame Kinder mit dem Gewalttäter haben, ist es häufig schwierig, ein gerichtliches Kontakt- und Näherungsverbot nach dem Gewaltschutzgesetz zu erwirken bzw. umzusetzen. Denn Kinder haben ein Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen, und die Ausübung von Gewalt gegen den anderen Elternteil steht dem Umgangskontakt mit dem Kind nach überwiegender gerichtlicher Auffassung nicht entgegen. Die konkreten Sorge- und Umgangsregelungen berücksichtigen die Schutzbedarfe von gewaltbetroffenen Müttern nicht immer angemessen und erzwingen Kontakte und Konfrontationen mit dem Täter.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass der Schutz von Opfern häuslicher Gewalt in Deutschland verbesserungswürdig ist. Eine Optimierung ist nicht nur im Sinne der Opfer, sondern auch in Bezug auf internationale Verpflichtungen dringend erforderlich. Denn die Europäische Opferschutzdirektive sieht vor, dass alle Maßnahmen der Justiz die Bedarfe von besonders schutzbedürftigen Opfern von Straftaten - und zu diesen zählen Opfer von Beziehungsgewalt - berücksichtigen müssen (EU-Opferschutzdirektive 2012/29/EU). Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (Art 16) ist Deutschland zudem verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen „vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, einschließlich ihrer geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen“ sowie „Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen“ in geeigneter Form zu gewährleisten.
Die zur Ratifizierung ausstehende „Istanbul Konvention“ des Europarates fordert zudem, dass Gewaltschutzmaßnahmen allen gewaltbetroffenen Frauen leicht zugänglich sind sowie schnell und effektiv umgesetzt werden und „dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet.“
Um die bestehenden Schutzlücken systematisch und nachhaltig abzubauen, ist ein umfassendes politisches Gesamtkonzept sowie ein koordiniertes Vorgehen erforderlich, das die konsequente Anwendung und Schutzwirkung der Instrumente für alle Opfer von Nahraumgewalt fördert. Es müssen erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um für alle Opfer von Nahraumgewalt sowohl akut als auch langfristig effektive Schutzmaßnahmen zur Verfügung zu stellen und ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen.
Wie ein verbesserter Gewaltschutz für Opfer von Nahraumgewalt gestaltet werden könnte, zeigt das Policy Paper des sozialwissenschaftlichen Instituts Zoom auf (http://snap-eu.org/reports.php).
Alle weiteren Hintergrundinformationen zum Projekt, nationale und internationale Forschungsberichte sowie politische Handlungsempfehlungen (Policy-Papiere) der beteiligten Länder finden sich ebenfalls auf der Projektwebsite http://www.snap-eu.org.