"Entscheidungen sind Versuche, die Zukunft zu binden"
Uncertainty-Talk mit Soziologen Armin Nassehi an der Universität Bielefeld
Entscheidungen zielen darauf, einen bestimmten Zustand in der Zukunft herzustellen. „Ein essentielles Merkmal von Entscheidungen ist, dass die Wahl zwischen verschiedenen Mög-lichkeiten besteht und dass unsicher ist, welche Folgen sie nach sich ziehen“, sagt der re-nommierte Soziologe Professor Dr. Armin Nassehi von der Ludwig-Maximilian-Universität München. Inwiefern damit Entscheidungen immer auch mit Unsicherheitsbedingungen verbunden sind, erörtert Nassehi am Montag, 19. Dezember, um 18.30 Uhr in einem Vortrag der Reihe Uncertainty-Talk.
„Entscheidungen sind Versuche, die Zukunft zu binden – sie sind also ein Mittel, mit unsicheren Bedingungen umzugehen“, sagt Armin Nassehi. „Eine Entscheidung kann nur eine Entscheidung sein, wenn sie mit Kontingenz verbunden ist – wenn also genauso gut auch anders hätte entschieden werden können.“ Vor dem Hintergrund stelle sich die Frage, ob die Unsicherheitsbedingung für Entscheidungen überhaupt steigerbar ist oder ob stattdessen andere Kategorien nötig seien, um besonders schwierige Entscheidungslagen beschreiben zu können, erklärt Nassehi. Dieser Frage geht er in seinem Vortrag am 19. Dezember nach.
Wie lassen sich besonders schwierige Entscheidungslagen erfassen?
„Armin Nassehi stellt heraus, wie komplex es ist, Situationen zu erfassen und zu beschreiben, die komplexe und weitreichende Entscheidungen erfordern“, sagt die Geschichtswissenschaftlerin Professorin Dr. Silke Schwandt von der Universität Bielefeld, eine der Organisator*innen der Uncertainty-Talks. „Damit rückt Nassehi die Unsicherheitsbedingungen für Entscheidungen in den Fokus, die in unserer dynamischen und vielschichtigen Welt immer unüberschaubarer werden und uns oft vor große Herausforderungen stellen“, sagt die Bielefelder Wissenschaftlerin. „Wenn Nassehi davon spricht, mit den Entscheidungen in der Gegenwart die Zukunft zu binden, bedeutet dies, mit der Wahl einer bestimmten Option alle anderen bekannten Alternativen auszuschlagen“, so Schwandt.
Die Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst im Blick
Armin Nassehi hat seit 1998 den Lehrstuhl I für Soziologie an der Universität München inne. Er ist unter anderem stellvertretender Vorsitzender des Bayrischen Ethikrats und Mitglied im Senat der Deutschen Nationalstiftung. Seit 2020 ist Armin Nassehi Mitglied in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. 2021 wurde er für seine wissenschaftliche Arbeit und sein Engagement in der Praxis mit dem renommierten Schader-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr hat er das Buch „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ veröffentlicht. Darin stellt er heraus, dass insbesondere in Krisen die systematische Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst besonders deutlich wird, weil ihre unterschiedlichen Funktionslogiken nicht nachhaltig aufeinander abgestimmt sind.
Vortragsreihe ist Teil einer neuen Forschungsinitiative
Professorin Dr. Silke Schwandt organisiert die Uncertainty-Talks zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Herbert Dawid und dem Konfliktforscher Professor Dr. Andreas Zick. Die Vortragsreihe wird in Kooperation mit dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld veranstaltet. Hervorgegangen ist sie aus einer Forschungsinitiative an der Universität Bielefeld, die die drei Wissenschaftler*innen koordinieren. Der Zusammenschluss beschäftigt sich intensiv mit Unsicherheit. Lange Zeit ist Unsicherheit als allgegenwärtige Bedrohung betrachtet worden, die es zu kontrollieren und im Zaum zu halten galt. Die neue Initiative strebt hingegen danach, die Forschung zu Ungewissheiten und Unsicherheiten auf eine breitere Basis zu stellen und voranzubringen. Dafür stellt sie die vielfältigen Arten der Navigation von Unsicherheit in den Mittelpunkt. Die Uncertainty-Talks sollen durch verschiedene Blickwinkel auf diese Analyse einen Beitrag zum interdisziplinären Verständnis dieses Forschungsansatzes leisten.
Außer dem Vortrag von Armin Nassehi am 19. Dezember steht auf dem Programm der Uncertainty-Talks aktuell noch eine weitere Veranstaltung am Montag, 30. Januar, um 18.30 Uhr. Zu Gast ist Professor Dr. Gerd Gigerenzer vom Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Der Psychologe und Risikoforscher hält seinen Vortrag zum Thema „Der Umgang mit Ungewissheit im digitalen Zeitalter“. Ort: Plenarsaal des ZiF. Der Vortrag wurde in den Januar verschoben, nachdem er im November ausgefallen war.
Der Eintritt zu dem Vortrag im Plenarsaal des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) ist kostenlos.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Anna Maria Neubert, Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie
Telefon: 0521 106-6512
E-Mail: aneubert@uni-bielefeld.de
Weitere Informationen:
https://www.uni-bielefeld.de/(de)/ZiF/OeV/2022/11-21-Uncertainty.html Website zur Vortragsreihe
https://www.uni-bielefeld.de/uni/presse-medien/publikationen/bi-research/ Forschungsmagazin BI.research mit Dossier „Navigation von Unsicherheit“