Zukunftsangst
16. September 1997
Reformstau verunsichert die Bevolkerung
Unsichere Zukunft des Sozialsystems
Berlin (wbs) Angst, bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit nicht ausreichend gesichert zu sein, sowie allgemeine Enttauschung uber die Sozialpolitik verunsichern die grosse Mehrheit der Bevolkerung. Dies hat auch Auswirkungen auf die Meinung uber das politische System in Deutschland und auf die Wahlabsichten und das Wohlbefinden der Burgerinnen und Burger, wie aus einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin fur Sozialforschung (WZB) hervorgeht.
In den Debatten zur Modernisierung des Systems der sozialen Sicherung haben sich die Parteien bisher nicht auf mehrheitsfahige Reformprojekte verstandigen konnen. Statt dessen werden fortgesetzt zentrale Bestandteile des Sozialsystems vorubergehend zur Disposition gestellt. Im Rahmen einer reprasentativen Umfrage im Auftrag des WZB wurden die Folgen dieser Dauerdebatte um die Zukunft des Sozialsystems in Deutschland untersucht. Die Ergebnisse sind alarmierend.
Fast zwei Drittel der Bundesburger befurchten demnach, zukunftig bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit "eher schlecht" (45 Prozent) bzw. sogar "schlecht" (18 Prozent) gesichert zu sein. Nur etwas mehr als ein Drittel hofft, in einer solchen Lage "eher gut" (31 Prozent) bzw. "gut" (acht Prozent) gesichert zu sein. Diese Verunsicherung hat in etwa alle Bevolkerungsschichten erfasst. Sie betrifft Manner und Frauen, Ost- und Westdeutsche, Jungere und Altere, Unterschicht und Mittelschicht nahezu gleichermassen. Nur einige Gruppen - etwa die uber 60jahrigen und die sogenannten "Besserverdienenden" - sind weniger stark betroffen.
Das sich ausbreitende Klima der Unsicherheit hat einen grossen Einfluss auf die Wahlabsichten. Wenn am nachsten Sonntag Bundestagswahl ware, wurden von den "schlecht Gesicherten" - also denjenigen, die erwarten, in Zukunft schlecht gesichert zu sein - 25 Prozent bestimmt nicht an der Wahl teilnehmen wollen. Von den "eher schlecht Gesicherten" sind es 15 Prozent, von den "eher gut Gesicherten" zehn Prozent und von den "gut Gesicherten" nur noch vier Prozent, die meinen, sie wurden ihre Stimme bestimmt nicht abgeben. Diese Ergebnisse verdeutlichen die Resignation derer, die keine Partei fur ausreichend kompetent halten, die anstehende Reform des Sozialsystems erfolgreich zu bewaltigen.
Entsprechend kritisch wird auch das gesamte politische System beurteilt. Auf einer Skala von -10 (schlechtester Wert) bis +10 (bester Wert) bewerten "gut Gesicherte" das gegenwartige politische System in Deutschland im Durchschnitt mit +6,0. Bei den "eher gut Gesicherten" liegt dieser Wert bei +3,5, bei "eher schlecht Gesicherten" bei +1,5, und bei den "schlecht Gesicherten" liegt der Wert bei -0,3 - und damit im negativen Bereich. Fur die nachsten Jahre ist nach Einschatzung der Befragten keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil, mit jedem gescheiterten Versuch der Parteien, einen Konsens zu finden, nimmt die Enttauschung zu. Aus diesem Grunde ist bei der Bewertung des politischen Systems eher noch mit weiteren Verschlechterungen zu rechnen.
Die Erwartung, in Zukunft bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit schlecht gesichert zu sein, ist auch fur das subjektive Wohlbefinden der Betroffenen nicht folgenlos. Die Beeintrachtigung der allgemeinen Lebenszufriedenheit ist sehr deutlich. "Gut Gesicherte" sind nahezu ohne Ausnahme (96 Prozent) zufrieden mit ihrem Leben, mehr als die Halfte (55 Prozent) ist sogar sehr zufrieden mit ihrem Leben. Bei den "schlecht Gesicherten" sind es dagegen nur 26 Prozent, die sehr zufrieden sind. Ein relativ grosser Anteil (16 Prozent) dieser Gruppe ist mit ihrem Leben sehr unzufrieden.
Vergleicht man die gegenwartige Lebenszufriedenheit mit der in funf Jahren erwarteten Lebenszufriedenheit, dann erhalt man ein Mass fur die Zukunftszuversicht. Von den "gut Gesicherten" erwarten 75 Prozent keine Veranderungen ihrer Lebenszufriedenheit. Die grosse Mehrheit rechnet hier also mit Stabilitat auf hohem Niveau. Noch einmal zehn Prozent erwarten einen weiteren Anstieg ihrer Lebenszufriedenheit, nur 15 Prozent rechnen mit einem Ruckgang. Dagegen befurchten bei den "schlecht Gesicherten" 35 Prozent einen Ruckgang ihrer Lebenszufriedenheit, 45 Prozent rechnen mit Konstanz auf niedrigem Niveau, und immerhin 20 Prozent hoffen auf einen Anstieg.
Die vorgestellten Ergebnisse der Untersuchung mahnen die Dringlichkeit einer ergebnisorientierten Sozialpolitik an. Die politischen Parteien mussen endlich einen Konsens uber die zukunftige Leistungspalette des Sozialsystems, die Leistungsniveaus und die Zugangsbedingungen aushan deln und in praktikable Reformvorhaben umsetzen. Erst auf dieser Basis konnen die Burger ihren individuellen Sicherheitsmix auf mehr Eigenvorsorge, mehr Markt und mehr Gemeinschaft umstellen. Erst auf dieser Basis kann auch wieder das Vertrauen entstehen, in Zukunft bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit gut gesichert zu sein.
Angst und Enttauschung - Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme", in: WZB-Mitteilungen, Heft 77 (September 1997), S. 3 - 6
Informationen: Thomas Bulmahn (WZB), Telefon 030 - 25 49 13 89