Frauen schreiben in Gedichten gegen KZ-Realität an
Wissenschaftlerin der Freien Universität Berlin untersucht 1.200 Prosastücke aus Ravensbrück.
Warum verfassten Frauen im KZ Ravensbrück so viele Gedichte? Dieser Frage geht Dr. Constanze Jaiser in ihrer an der Freien Universität Berlin verfassten Dissertation nach. Der Literaturwissenschaftlerin gelang es, mehr als 1.200 Gedichte von Frauen aus 15 Nationen zusammen zu tragen und die Lebensdaten von 130 Frauen zu recherchieren. Auf beeindruckende Weise zeigt Jaiser anhand einer literaturwissenschaftlichen Analyse der Gedichte das Paradoxon auf, wie die geschundenen Frauen Zeugnis der eigenen Ich-Zerstörung ablegen und gleichwohl für Momente ins Gedicht verbannen und damit aufheben. Für Momente erhalten damit die namenlosen Frauen ein Stück ihrer Identität zurück.
"Lagergebet"
Vater unser, der Du bist im Himmel
Und siehst unser heimatloses Leben,
Nimm uns in Obhut, Deine treuen Kinder
Stille die Tränen, die unsere Seele trüben.
Geheiligt sei Dein Name hier auf fremder Erde,
Wo wir dem Vaterhaus gewaltsam entrissen,
Unter den Feinden und heimlich beten müssen.
Dein Wille geschehe! Rufen wir demutsvoll,
Glaubend, daß Leid und Freude von Dir kommen müssen,
Daß Du uns alles gibst, Großer, Allmächtiger Gott,
Und der tiefe Glaube wird unser Schicksal versüßen.
Herr, unser tägliches Brot karge uns nicht!
Gib Kraft zum Überleben, und für die Seele den Glauben
Daß unsere Verbannung nicht ohne Ziel ist,
Daß wir vielleicht durch unsere alten Sünden leiden.
Vergib unsere Schulden, durch die Schwäche entstanden
Wenn Zwiespalt, Schmerz, Verzweiflung unsere Seelen füllen.
Und wenn manche, oh Herr, unter dem Kreuz fallen.
Führe uns nicht in Versuchung, die die Seele verdirbt,
Vor allen Bösen rette uns vielmehr
Und gib uns eine glückliche Heimkehr.
Urszula Winska (Ravensbrück, 1941)
Die 1.200 Gedichte der Frauen aus Ravensbrück hat Constanze Jaiser in verschiedenen Archiven, in Privatbesitz und in der internationalen Literatur zu Ravensbrück aufgespürt. Nach dem Krieg hatten zunächst überlebende Frauen begonnen, KZ-Gedichte zu sammeln. Die meisten untersuchten Gedichte stammen aus der Zeit nach 1942. Ein Drittel wurden von Polinnen verfasst. Zwei Drittel der Gedichte stammt von Gelegenheitsschriftstellerinnen. Häufig wurden die Gedichte zu bestimmten Anässen wie Geburtstagen, Weihnachten, dem Tod einer Freundin oder dem Namenstag geschrieben. Viele der Texte, die Jaiser als poetische Zeugnisse bezeichnet, sind namenlos, dafür aber einer bestimmten Person gewidmet.
Das Besorgen von Papier und das Schreiben der Gedichte fand unter ständiger Lebensgefahr statt. Wer beim Schreiben entdeckt wurde, musste mit drakonischen Strafen rechnen. Vielfach wurden Gedichte daher mündlich gesprochen und für heimlich stattfindende Kulturabende vertont.
Die Gedichte reflektieren die entwürdigende Lagersituation der Frauen und deren langsamen Identitätsverlust. Unterernährt, unzureichend bekleidet, krank, zermürbt von der physisch erschöpfenden Zwangsarbeit, von medizinischen Experimenten und von den alltäglichen Schikanen der SS, zeichnen die Gedichte ein Bild der inneren Wirklichkeit der Frauen. In ihren Gedichten setzen sich die Frauen vor allem mit der verlorenen Heimat und ihren Angehörigen, der Natur und davon abgesetzt mit den physischen Qualen wie Hunger, Kälte, Durst, Krankheiten, Folter und Tod auseinander. Am häufigsten wird das entwürdigende Appell-Stehen beschrieben. Kaum Erwähnung finden Spannungen zwischen den Häftlinge oder auch Fragen der Sexualität; bezeichnenderweise wird das SS-Personal ebenfalls nur selten explizit thematisiert, wiewohl Folter, Terror und Tod zentrale Themen dieser Lyrik sind. Auch der Ort Ravensbrück bleibt schemenhaft und wird - weil das Erlebte über das menschliche Fassungsvermögen geht - als Hölle, als ein teuflisches System abstrahiert.
Da viele Gedichte von Katholikinnen verfasst wurden, nehmen die Gedichte häufig, wie das zitierte Vater unser, Glaubensfiguren auf. Anders als in üblichen Gebeten verlieren die Texte meist ihren Transzendenzcharakter; Gott wird zur Befreiung aufgefordert und angefleht. In einigen Gedichten wird das Leiden der Frauen mit dem Passionsweg Christi verglichen. Doch angesichts des alltäglichen Grauens überwiegt das Gefühl der Gottverlassenheit, der Gottesferne. Dennoch haben die Gedichte fast beschwörenden Charakter. Auch Gedichte, die sich nicht an Gott, sondern an ein fernes "Du" richten, lesen sich wie Gebete oder Zauberformeln, die das Grauen mit Hilfe der Sprache zu bannen versuchen.
Als Gegenbild zur Lagerwelt finden sich in den Gedichten häufig Beschreibungen der Natur und des Himmels, was auch damit zu erklären ist, dass die Gedichte oftmals im Kopf während des endlosen Appell-Stehens entstanden. Häufig wird aber auch die anfänglich friedliche Natur als bedrohend erlebt, da sie den Frauen Regen, Schnee und Kälte schickt.
Gedichte und Gebete sind ein eindrucksvolles Zeichen, dass sich das gesprochene Wort und der Wille, über das Entsetzen, Zeugnis für die Nachwelt abzulegen, auch unter den grauenvollsten Umständen nicht brechen lassen. Beide waren für die Frauen als Trost, gemeinsamer Zuspruch lebensbestärkend wie Brot. Indem die Frauen schrieben, gaben sie sich trotz ihrer verzweifelten und ausweglosen Situation ein Stück weit selbst Individualität und Würde zurück. Die Macht der SS endete zu Beginn einer jeden Gedichtzeile.
Felicitas von Aretin
Literatur:
Constanze Jaiser, Poetische Zeugnisse. Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Ergebnisse der Frauenforschung Bd. 55. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2000
Nähere Informationen erteilt gerne:
Dr. Constanze Jaiser, Institut für Evangelische Theologie an der Freien Universität Berlin, Ihnestr. 56, 14195 Berlin-Dahlem, Tel: 030 / 838-56252 oder 6925708, E-Mail: jaiser@zedat.fu-berlin.de
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