Selbstentdeckung neuer Möglichkeiten
Lehr- und Fortbildungsoffensive, Teil 7: Beratend lernen - lernend beraten: Studierende des Studium fundamentale geben Unternehmen Denkanstöße
Wittener Studierende des Studium fundamentale beraten Banken, Wohnungsbaugesellschaften, einen Immobilienkonzern und bald auch einen Arbeitgeberverband. "Wir geben dabei keine Patentrezepte", sagt der Soziologie-Professor Dirk Baecker, der die Beratungsprojekte leitet. "Wir helfen eher wie eine Hebamme". Die Beratung sei für die Unternehmen eine Stimulierung zur Selbstentdeckung neuer Möglichkeiten. Im Rahmen der Projekte lernen die Studierenden, sich rasch in unterschiedliche Problemstellungen einzuarbeiten. Sie verbinden sozial- und kulturwissenschaftliche Theorieansätze mit praktischem ökonomischen Denken.
Baecker und sein studentisches Team betrachten die Firmen nicht aus einem rein betriebswirtschaftlichen Blickwinkel. Ihr Zugang bedient sich der Beobachtung aus einer "inkongruenten Perspektive". Die Berater sehen das Unternehmen anders als die Mitarbeiter innerhalb der Organisation. "Wir beobachten dieselbe Organisation, aber aus einer anderen Perspektive heraus", erläutert Dirk Baecker. "Und das kann für die Organisation selbst interessant sein." Mit ihrem Blick von außen versorgen die Berater das Unternehmen mit Informationen, über die es vorher nicht verfügte und nun für sich nutzen kann. Hinter dieser Methode steht der Denkansatz, dass Firmen und andere Organisationen soziale Systeme sind, die nur schwer von außen gesteuert werden können. Anstöße zur Stärkung des Selbstentwicklungspotenzials sind aber sehr wohl möglich.
Prof. Dr. Dirk Baecker, Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke, gehört zu den profiliertesten Systemtheoretikern und Organisationsforschern. Seine Seminare, die als Ausgangspunkt für die Beratungen dienen, sind Teil des Lehrangebots des Studium fundamentale, das mit seinen sozial-, kulturwissenschaftlichen und künstlerischen Inhalten für alle Wittener Studierenden, vom Mediziner bis zum Wirtschaftswissenschaftler, verpflichtend ist. Darüber hinaus bilden die Beratungsseminare einen Ausbildungsschwerpunkt für den vor rund eineinhalb Jahren eingerichteten eigenständigen Bachelorstudiengang Philosophie und Kulturwissenschaften.
Unter Leitung und Koordination von Dirk Baecker tragen die Studierenden Informationen über die Unternehmen und jeweiligen Branchen zusammen. Sie beraten über die umzusetzenden Methoden, entwerfen Fragebögen und Interviewstrategien. Bei den Gesprächen mit den Mitarbeitern oder auch Kunden des Unternehmens nimmt das Bild immer schärfere Konturen an. "Bis die Sache rund ist, vergehen Monate, nach denen alle Studierenden feststellen, dass sie mit Sachverhalten vertraut sind, von denen sie vorher nicht einmal gehört hatten, und mit Partnern eine Gesprächsebene gefunden haben, auf der sie sich vorher noch nie bewegt haben", resümiert Dirk Baecker. Die Ergebnisse gehen in Form einer umfangreichen Studie an die Unternehmen.
Die Quintessenz der Zusammenarbeit mit der Barmer Wohnungsbaugesellschaft mag auf den ersten Blick überraschen. Baecker und die Studierenden empfahlen der Firma, sich auf das Produkt "Wohnfrieden" zu konzentrieren. Alles in allem, so ergaben Recherchen vor Ort, seien die Mieter mit den Wohnungen und dem Umfeld zufrieden. Nur das Miteinander in der Nachbarschaft könnte hier und da noch besser sein. Eine Wohnungsbaugesellschaft könne hier eine Palette neuer Dienstleistungsangebote entwickeln, ohne deswegen ihr Kostenbewusstsein aus den Augen zu verlieren. Bei einem Projekt der Beratung zweier genossenschaftlicher Banken stand die Frage im Mittelpunkt, ob diese Banken zumindest in Teilbereichen fusionieren sollten. Das Beratungsfazit hier: Beide Banken sind sehr unterschiedlich, aber beide hochgradig zukunftsfähig aufgestellt. Eine Fusion oder zu enge Kooperation würde die zwei erfolgreichen Modelle nur verwässern. Im Projekt der Beratung eines Immobilienkonzerns ging es darum, über welche Handlungsmodelle Wohnungswirtschaft und -politik verfügen, um mit dem neuen Problem der "schrumpfenden Räume", das heißt der wachsenden Leerstände umzugehen. Hier stellten die Studierenden fest, dass Politiker und Unternehmer nach Jahrzehnten des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg sich erst wieder mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass auch der Abriss von Wohnungsbau eine Option ist.
Während zur Zeit noch offen ist, ob und wie die bisherigen Wittener Überlegungen Niederschlag in den Unternehmensentscheidungen finden, stehen schon die nächsten Projekte an: Auch ein Arbeitgeberverband will sich aus der Perspektive des Studium fundamentale beobachten lassen.
Weitere Infos: Prof. Dr. Dirk Baecker, 02302/926-500, dbaecker@uni-wh.de