Über die Sprache von Jugendlichen im Internet-Chat
"Bin ich attraktiv genug für die Handynummer?"
Psychologin untersucht die Sprache von Jugendlichen im Internet-Chat
Das Internet ist rasend schnell Teil des Alltags geworden. Neben der Informationssuche nutzen vor allem junge Leute das "Chatten" (Englisch: plaudern). Die Schnelllebigkeit dieses Mediums führt zu Veränderungen in der benutzten Sprache. Die Psychologin Claudia Orthmann untersucht in ihrer Dissertation an der Freien Universität Berlin, wie sich Jugendliche im Chat ausdrücken, welche spezifischen Merkmale die Chatsprache hat und worum es bei der Plauderei am Computer geht.
Im Chat sind Jugendliche vor allem auf der Suche nach Flirtpartnern. Außerdem testen sie, wie weit sie die Grenzen der übrigen Chatter, des Administrators und des Systems ausreizen können. Für ihre Dissertation verwendete Claudia Orthmann 21 Protokolle (Logfiles) des "Europachat 2000". Berlinweit nutzten verschiedene Jugendeinrichtungen diesen Chatraum. Insgesamt gab es 363 verschiedene Chatter, die meist im Teenageralter waren.
Antrieb der Plauderer ist vor allem die soziale Bestätigung: "Bin ich im Gespräch attraktiv und interessant genug, damit mir die E-Mail-Adresse oder Handynummer gegeben wird? Habe ich mich gut genug dargestellt, um Interesse an einem Treffen zu wecken?" Nach der Begrüßung folgt meist der "ASL-Check" (ASL = age, sex, location). "Bist du J oder M? Wie alt bist du? Wo wohnst du?" Bekommt der Chatter eine Telefonnummer, ist der Flirt gut gelaufen. Treffen im wirklichen Leben werden so gut wie nie vereinbart.
Der Chat ist ein schnelles Medium, das nicht über die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache verfügt. Ergänzende nonverbale Aspekte wie Mimik und Gesten sowie paralinguistische Merkmale wie Stimmlage und Betonung können nur vereinzelt im Chat ersetzt werden. Hilfsmittel, die die Internetnutzer oft einsetzen sind so genannte "Emoticons" (Smileys). Schreien wird mit Majuskeln (DU STINKER) angedeutet und gilt als außerordentlich unhöflich. Die Stimmlage lässt sich durch Asterisken andeuten: *flüsterthonigsüß*. Darüber hinaus sind Verbstämme wie lach oder grins und Lautwörter wie haha beliebt, die der Comicsprache ähneln. LOL (laughing out loud) und andere Akronyme waren eher selten; am häufigsten wurde das englische Akronym "cu" (see you) benutzt. Die Gesprächsteilnehmer sind sich der eingeschränkten Möglichkeiten dieser Sprache bewusst und genießen die Mehrdeutigkeit.
Im Schimpfen sind die Chatter außerordentlich schöpferisch, vor allem wenn es darum geht, Grenzen auszutesten. Für Kinder und Jugendliche ist das Schimpfen in Chaträumen ein Bereich, in dem sie sprachliche Kreativität üben und ihre Wirkung testen können, ohne Konsequenzen zu befürchten. Großen Reiz scheinen das Beleidigen anderer Chatteilnehmer und das Lenken der Aufmerksamkeit auf sich zu haben. Die Provokation gilt als interaktives Verhalten, da sie auf eine Reaktion hin ausgerichtet ist. So sagte ein 16-jähriger Chatter im Interview: "Man kann aber auch einfach reingehen und die Sau rauslassen. Also, das haben wir öfter gemacht, weil es kann Dich ja keiner was." Schlagfertigkeit ist hier ebenso gefragt wie Ideenreichtum: "Du kommst aus der Mülltonne." Die Replik darauf: "Du Chatbazille."
Das Schimpfen dient in moderierten Chats auch dazu, die Grenzen des Moderators zu testen. Der hat die Macht, Teilnehmer bei Fehlverhalten zu sperren. Allerdings war der Moderator nur in 60 Prozent der untersuchten Sitzungen tatsächlich eingeloggt. Das ist bedenklich, da die Nutzer oft noch Kinder waren. Beunruhigend fand Claudia Orthmann zudem die Freigebigkeit, mit der die Nutzer Daten wie Telefonnummer oder E-Mail-Adressen im Internet preisgeben.
Von Gesche Westphal
Die Studie "Strukturen der Chat-Kommunikation" ist im Internet verfügbar - siehe Link weiter unten.
Nähere Informationen erteilt Ihnen gern:
Dr. Claudia Orthmann, Tel: 030 / 70 17 46 17 , E-Mail: Claudia.Orthmann@gmx.de
Weitere Informationen:
http://www.diss.fu-berlin.de/2004/78