Mathematik in der Finanzwelt und im Versicherungswesen
Baisse oder Hausse? Bulle oder Bär? In welche Richtung sich die Kurse an der Börse entwickeln mögen - ohne Mathematik funktionieren auch die modernen Finanzmärkte nicht. Dabei ist Finanzmathematik nicht mit dem "kaufmännischen Rechnen" gleichzusetzen. Vielmehr hilft sie, optimale Investmentstrategien zu bestimmen, das Risikomanagement von Finanzgeschäften zu optimieren sowie Preise, unter anderem von Gütern, Währungen oder Wertpapieren, zu modellieren.
Jeder Mensch ist Risiken ausgesetzt. Diese Feststellung sollte jedoch niemanden dazu verleiten, keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzen. Denn das Risiko birgt eine wichtige Eigenschaft: Es ist bis zu einem gewissen Grad kalkulierbar. Ein einfaches Beispiel: Wer sich vor einem Gewitter in ein Haus zurückzieht, muss sich weniger vor Blitzschlag fürchten, als jemand, der zum gleichen Zeitpunkt mit seinem Schlauchboot über einen See paddelt. Risiken lassen sich also in vielen Fällen ebenso gut vorhersagen wie Chancen. Genau dies, also die Berechnung von Chancen und Risiken, ist die zentrale Aufgabe von Versicherungs- und Finanzmathematikern - natürlich in weitaus komplexerer Form als in obigem Beispiel beschrieben.
Wie viele Menschen müssen Policen in welcher Höhe abgeschlossen haben, damit für den Schadensfall die entsprechende Entschädigungssumme gezahlt werden kann? Wie muss ich mein Anlageportfolio gestalten, um eine möglichst hohe Rendite bei gegebenem Verlustrisiko zu erzielen? Ohne ausgefeilte mathematische Methoden wären diese Fragen nicht zu beantworten. Auch und gerade in der Finanzwelt ist Mathematik heute unverzichtbar, sei es für das Risikoma-nagement von Anlagegeschäften, an der Börse beim Wertpapierhandel oder für die optimale Finanzstrategie. Sogar ein eigener Beruf hat sich für die speziellen Anforderungen der Versicherungs- und Finanzmathematik etabliert: der Aktuar/ die Aktuarin.
Sichere Vorhersage - das Gesetz der großen Zahl
Schäden verursachen Kosten. Oft sind die Geschädigten nicht in der Lage, dafür aus eigener Tasche aufzukommen. Deshalb gibt es Versicherungen, die im Unglücksfall einspringen. Doch: Nach welchen mathematischen Regeln ist es den Anbietern möglich, bei vergleichsweise geringen Prämien der Versicherten hohe Summen im Schadensfall zu zahlen? Das mathematische Prinzip, auf dem die Versicherungsmathematik basiert, ist das "Gesetz der großen Zahl": Je größer die Anzahl der Ereignisse, desto eher treten bestimmte Fälle genauso häufig ein, wie es theoretisch vom verwendeten Modell vorausgesagt wurde. Am einfachsten lässt sich das Gesetz der großen Zahl mit Hilfe eines Würfels erklären. Die Wahrscheinlichkeit für jede Zahl von 1 bis 6 ist beim Würfeln genau gleich - also ein Sechstel. Wird aber zum Beispiel nur fünfmal gewürfelt, kann es durchaus sein, dass drei Zweien dabei sind. Wird jedoch 60.000-mal gewürfelt, dann werden alle Zahlen etwa gleich oft - nämlich rund 10.000-mal - gewürfelt. Auf Versicherungsmathematik übertragen bedeutet dies, dass für eine große Anzahl ähnlich Versicherter die zu leistenden Zahlungen für eintretende Schäden zuverlässig prognostiziert werden können.
Wichtige Zweige der sogenannten Versicherungsmathematik sind die Lebens-, die Schadens- und die Pensionsversicherungsmathematik. Die Lebensversicherung - egal ob als Risiko- oder Kapitallebensversicherung - ist eine der gängigsten Versicherungen. Die Berechnung der Prämie, welche die Versicherten zahlen müssen, hängt vor allem von einer genauen Prognose der später fälligen Leistung ab. Entscheidend ist hierbei das zu erwartende Lebensalter des Versicherten. Im Sinne des Gesetzes der großen Zahl wäre eine solche Prognose einfach. Im Zuge des demografischen Wandels steigt jedoch die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Versicherte das Auszahlungsalter erreichen und die Leistung länger in Anspruch nehmen. Besonders deutlich wird diese Entwicklung unter anderem in der Diskussion über die Finanzierung des Rentensystems.
Für die Versicherungsmathematik entstehen aus den demografischen Veränderungen neue Herausforderungen: Welche Modelle sind geeignet, um beispielsweise die Lebenserwartung der Bevölkerung oder die Entwicklung der Lebensumstände in die Berechnungen einzubeziehen? Mit welchen Finanzprodukten kann das so genannte Langlebigkeitsrisiko abgedeckt werden? Für letzteres werden beispielsweise Langlebigkeitsbonds entwickelt, bei denen die Zinszahlungen von der Anzahl der Menschen einer Altersgruppe abhängen.
Risiken mathematisch minimieren
Hurrikans an der amerikanischen Ostküste, Ernteausfälle in Australien, Überschwemmungen durch Monsunregen in Indien - für Versicherungen, die letztlich die finanziellen Schäden aus Wetterkapriolen tragen, sind die Risiken unvorhersehbar. Für die Versicherten bedeutet das normalerweise hohe Prämien, mit denen die Anbieter ausreichende Rücklagen für den Ernstfall bilden können. Erhöhte Beiträge verschrecken jedoch viele potenzielle Kunden. Hier sind Versicherungs- und Finanzmathematiker gefragt, nach neuen Methoden zu suchen.
Eine Möglichkeit besteht darin, weitere Investoren an den Anlagerisiken zu beteiligen. Für diesen Zweck wurden und werden Produkte entwickelt, die diese neuartigen Finanzrisiken in Wertpapiere und ähnliche Anlageformen umwandeln, um diese dann einem breiten Anlegerkreis zugänglich zu machen. Tritt der Schadensfall nicht ein, haben alle etwas davon - auch die Anleger.
Große Naturkatastrophen verursachen allerdings oft Schäden mit verheerendem Ausmaß. Die Orkane Lothar (1999) und Kyrill (2007) sowie die großen Hochwasser an Oder (1997) und Elbe (2002) sind Beispiele aus Deutschland, bei denen die Schäden zuvor nicht gekannte Ausmaße erreichten. Da sich die Umstände und Auswirkungen von Naturkatastrophen von Fall zu Fall ändern, können Versicherungsmathematiker sich hier nicht am Gesetz der großen Zahl orientieren. Lösungsansätze bietet die sogenannte Extremwertstatistik, die sich mit dem Schätzen und der Vorhersage der Auswirkungen seltener extremer Ereignisse beschäftigt. Hierbei werden mathematische Höchstleistungen verlangt. Nur relativ wenig Datenmaterial steht den Versicherungsmathematikern für Modellierungen zur Verfügung. Denn es müssen Vorhersagen in Größenordnungen getroffen werden, für die es meist keine vergleichbaren Erfahrungswerte gibt.
Als Sicherheitsnetz für Versicherungen werden hier die Rückversicherungen aktiv - vorausgesetzt, sie wurden abgeschlossen. Rückversicherungen übernehmen Schadensleistungen, die über das übliche Maß hinausgehen. Da die Anbieter dieses Schutzes in der Regel überwiegend Versicherungen als Kunden haben, profitieren sie teilweise vom Gesetz der großen Zahl.
Die Mathematik der Investmentbanken
Baisse oder Hausse? Bulle oder Bär? In welche Richtung sich die Kurse an der Börse entwickeln mögen - ohne Mathematik funktionieren auch die modernen Finanzmärkte nicht. Dabei ist Finanzmathematik nicht mit dem "kaufmännischen Rechnen" gleichzusetzen. Vielmehr hilft sie, optimale Investmentstrategien zu bestimmen, das Risikomanagement von Finanzgeschäften zu optimieren sowie Preise, unter anderem von Gütern, Währungen oder Wertpapieren, zu modellieren. Als Initialzündung dieses Wissenschaftszweiges wird die "Theorie zur Bewertung von derivativen Finanzprodukten" angesehen, die in den 70er-Jahren von Fischer Black, Myron Scholes und Robert Merton entwickelt wurde.
Nach der Einführung der Zinsrechnung hat das "Black-Scholes-Modell" wie kein zweites die Finanzwelt revolutioniert und damit auch die heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. Als Anerkennung dieser Leistung erhielten Merton und Scholes im Jahr 1997 den Nobelpreis für Ökonomie. Fischer Black war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben.
Der Formel von Black, Scholes und Merton liegt ein denkbar einfaches ökonomisches Prinzip zugrunde: Der Wert eines Produktes wird im Wesentlichen von seinen Produktionskosten bestimmt. Umgesetzt in mathematische Sprache entwickelten die Wissenschaftler aus diesem einfachen Grundsatz ein erfolgreiches Werkzeug zur Bewertung von Finanzoptionen. Dank des Black-Scholes-Modells werden zentrale Problemstellungen beim Optionshandel an den Finanzmärkten für Händler berechenbar. Welcher Wert soll beispielsweise für eine Zahlung vereinbart werden, die erst in Zukunft stattfinden soll, deren Höhe allerdings auch erst - bedingt durch bestimmte Bedingungen oder Kursentwicklungen - zu jenem Zeitpunkt feststeht? Am Beispiel einer "Kaufoption" auf den Euro-Dollar-Wechselkurs wird der Vorgang deutlich. Dieses Finanzprodukt ist vor allem für Exporteure - wie die Autoindustrie, die ihre Produkte in Dollar verkauft, die Kosten aber in Euro begleicht - interessant. Kommt es zu einem Verfall des Dollarkurses, so sinken die Dollarexporteinnahmen bei gleich bleibenden Eurokosten - der Autohersteller erleidet Verluste.
Eine Kaufoption verhindert dieses Währungsrisiko, indem sie dem Exporteur über einen bestimmten Zeitraum einen festen Wechselkurs zusichert. Sollte der Dollar fallen, wird die Option genutzt und der Verkäufer der Option - typischerweise eine Bank - muss die Wechselkursdifferenz ausgleichen. Bleibt der Dollar über dem zugesicherten Wechselkurs, wird die Option nicht benötigt und verfällt nach Ablauf des festgelegten Zeitraums. Das Wechselkursrisiko trägt die Bank. Für sie lohnt sich das Risiko - sie verdient am Preis für die Kaufoption. Diese Risikoprämie wird so bemessen, dass die Bank die Einnahmen aus dem Verkauf der Option je nach Währungskurs möglichst optimal zwischen Dollar- und Euroanlagen hin und her transferieren kann. Dafür setzen Banken sowohl ein ausgefeiltes mathematisches Modell für die Berechnung der Kursfluktuationen ein als auch Mathematiker, die daraus entsprechende dynamische Strategien für die Kaufoption entwickeln. Als Hilfsmittel werden fortgeschrittene Prinzipien der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik sowie Algorithmen aus Analysis, Numerik und Optimierung herangezogen.
Mathematische Modellierung für den Ernstfall
Die gegenwärtige Krise an den internationalen Finanzmärkten wird häufig mit "Collaterized Debt Obligations" (CDOs) in Verbindung gebracht. Diese Finanzprodukte sind deutlich komplexer als Kaufoptionen - deutlich schwieriger ist auch ihre finanzmathematische Bewertung. Das liegt vor allem daran, dass CDOs eine ganze Reihe von Finanzrisiken, häufig Hypotheken, bündeln und umstrukturieren. Auf diese Weise werden CDOs auch für "konservative" Investmentfonds mit strengen Risikovorgaben interessant. Dabei ist sehr wichtig, die Abhängigkeiten zwischen den Risiken richtig einzuschätzen und diese durch mathematisch korrekte Modellierung zu minimieren. Gute Modelle zur Beschreibung von Abhängigkeiten zwischen Risikofaktoren sind Gegenstand aktueller Forschung. Ein wesentlicher Faktor, der ehemals bei CDOs ein großes Problem darstellte, war die unzureichende Bonitätsprüfung von Kreditnehmern. Die Kreditgeber waren davon ausgegangen, die eigenen Risiken über CDOs schnell weiterreichen zu können. Dadurch war ein ungewöhnlich hoher Anteil der Kreditbündel mit einem hohen Risiko behaftet, sodass die Bewertung dieser Finanzprodukte nicht mehr korrekt vorgenommen werden konnte. Als dies von den Marktteilnehmern erkannt wurde, erfolgte eine Neubewertung der CDOs. Das führte zu den viel zitierten Abschreibungen in Milliardenhöhe - eine Folge menschlicher Fehleinschätzung, vor der selbst die beste Mathematik nicht schützen kann.
Wenngleich CDOs eine Ursache für Krisen am Finanzmarkt darstellen, überzeugen sie doch durch ihre besonderen Eigenschaften: Sie ermöglichen beispielsweise die Kreditvergabe zu niedrigen Zinsen. Denn sie erlauben mehr Investoren, Geldmittel für Kredite bereitzustellen. Das hat einen überaus positiven volkswirtschaftlichen Effekt.
Arbeiten mit dem Risiko: das Aktuarswesen
Immer neue mathematische Herausforderungen im Finanz- und Versicherungssektor sind auch ein Grund dafür, dass dabei zunehmend einem Berufszweig ein besonderes Augenmerk zuteil wird: Aktuaren. Neben dem Mathematikstudium durchlaufen diese Spezialisten eine zusätzliche Ausbildung, bei der sie mit Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Finanzmathematik Fragestellungen analysieren und Lösungen entwickeln.
Eine mehrteilige Fachprüfung bei der Deutschen Aktuarsvereinigung bildet den Abschluss. Aktuarinnen und Aktuare arbeiten hauptsächlich in Versicherungen, Banken und Investmentgesellschaften. Sie sind gleichermaßen zum Nutzen der Kunden wie auch der Unternehmen tätig. Hier gewährleisten sie nicht nur die dauerhafte Sicherheit von Produkten, sondern auch die finanzielle Stabilität der jeweiligen Anbieter.
Bei ihren Berechnungen helfen ihnen an die jeweiligen Gegebenheiten angepasste mathematische Modelle, mit denen sich die Auswirkungen verschiedener Ereignisse möglichst frühzeitig untersuchen und eventuelle Schäden einschätzen lassen. Über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen hinaus leisten Aktuare einen entscheidenden Beitrag bei der Gestaltung von Versicherungs- und Finanzprodukten. Nicht zuletzt helfen sie entscheidend dabei, die Vorteile von Finanzinnovationen auch in Zukunft zu sehen, zu verstehen und nutzbar zu machen.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Peter Bank
Tel. 030 314 228 16
TU Berlin, bank@math.tu-berlin.de, www.math.tu-berlin.de/~bank
Prof. Dr. Claudia Klüppelberg
Tel. 089 289 174 32
TU München, cklu@ma.tum.de, www-m4.ma.tum.de/pers/cklu/
Prof. Dr. Ralf Korn
Tel. 0631 205 2747
TU Kaiserslautern/Fraunhofer ITWM Kaiserslautern, korn@mathematik.uni-kl.de, www.mathematik.uni-kl.de/~korn
Mehr erfahren Sie auch unter: www.jahr-der-mathematik.de
Der Abdruck ist honorarfrei. Ein Belegexemplar wird erbeten. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:
Steffi Würzig
Quartier 207
Friedrichstraße 78
10117 Berlin
Tel.: (030) 700 186 - 797
Fax: (030) 700 186 - 909
wuerzig@jahr-der-mathematik.de
Julia Kranz
Quartier 207
Friedrichstraße 78
10117 Berlin
Tel.: (030) 700 186 - 741
Fax: (030) 700 186 - 909
kranz@jahr-der-mathematik.de
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