Pietas Hallensis Universalis. Sensationsfund nach 20 Jahren in den Franckeschen Stiftungen zu Halle
London als Schaltstelle des weltweiten Netzwerks August Hermann Franckes
Wissenschaftler entdecken nach über 20-jähriger Suche einen Teilnachlass des Londoner Hofpredigers Friedrich Michael Ziegenhagen (1693-1776)
erste öffentliche Präsentation am 16.12.2010 um 11 Uhr im Archivmagazin des Studienzentrums August Hermann Francke der Franckeschen Stiftungen, Haus 24
600 laufende Meter Akten und Handschriften, 3.300 Pläne und 270 Palmblatthandschriften sind im Magazin des Archivs der Franckeschen Stiftungen im Studienzentrum August Hermann Francke aufbewahrt. Seit der rechtlichen Wiederherstellung der Franckeschen Stiftungen im Jahr 1992 ist dieser kulturhistorisch unschätzbar wertvolle Schatz nach einem fast 50-jährigen Dornröschenschlaf wieder für Wissenschaftler aus aller Welt zugänglich. Über 20 Jahre hatten Forscher dies- und jenseits des Atlantiks hier nach einem der europaweit meistgesuchten Nachlässe zur Geschichte der weltweiten Beziehungen des Halleschen Pietismus gefahndet. In Vorbereitung des 300-jährigen Jubiläums Heinrich Melchior Mühlenbergs (1711-1787), der als Patriarch der Lutherischen Kirche in Nordamerika im kommenden Jahr mit einem umfangreichen Jubiläumsprogramm geehrt werden wird, ist jetzt in 9 Archivkartons der insgesamt 412 Dokumente umfassende Nachlass des Londoner Hofpredigers Friedrich Michael Ziegenhagen gefunden worden, welcher als Schaltstelle der internationalen Beziehungen Franckes gilt.
Friedrich Michael Ziegenhagen war seit seinem Theologiestudium in Halle vom Pietismus August Hermann Franckes (1663-1727) geprägt. Den Franckesche Stiftungen in Halle blieb er Zeit seines Lebens eng verbunden. Nach dem Tod des Londoner Hofpredigers Anton Wilhelm Böhme (1673-1722) wurde der erst 29-jährige Theologe von seiner Stelle als Hausprediger beim Grafen von Platen in Linden bei Hannover direkt nach London entsendet, um die Hofpredigerstelle bei Georg I. aus dem Hause der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg anzunehmen. Seine Position am Londoner Hof nutzte Ziegenhagen, um über 54 Jahre hinweg das weltweite Wirken August Hermann Franckes in Halle zu unterstützen. Tranquebar in Südindien, Philadelphia in Nordamerika, die Betreuung der Salzburger in Georgia – die von Halle entsendeten Missionare und Emissäre nahmen ihren Weg über London, hielten hier ihre Antrittspredigt und wurden begleitet mit Befürwortungschreiben oder förmlichen Berufungen des Hofpredigers an ihren Bestimmungsort ausgeschifft. Ziegenhagen verstand es, die Belange der Pietisten mit der Anglikanischen Kirche, insbesondere der von England aus weltweit agierenden Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK), geschickt zu verknüpfen. Unermüdlich hielt der die Fäden in der Hand, stand sowohl mit den hallischen Pietisten als auch den in Konkurrenz zu Halle in Nordamerika wirkenden Herrnhutern in Kontakt. Die vielen hundert Berichte und Briefe an Francke in Halle liefen über den Schreibtisch des rührigen Londoner Theologen, der sein ganzes Leben seiner Arbeit gewidmet hatte.
Trotz des großen Einflusses Ziegenhagens auf die internationalen Wirkungen der europäischen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts konnte sein Leben und Einsatz für den Halleschen Pietismus auf Grund der mangelnden Quellenlage bisher nur unzulänglich erforscht werden. Der Nachlass in den Franckeschen Stiftungen gibt jetzt erstmals die Möglichkeit, die Bedeutung eines der herausragendsten Befürworter und Unterstützer August Hermann Franckes für die weltweite Verbreitung des Halleschen Pietismus zu würdigen.
Stimmen internationaler Wissenschaftler zum Ziegenhagen-Nachlass im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle
Professor Daniel Jeyaraj; Professor of World Christianity and Director of Andrew F. Walls Centre for the Study of African and Asian Christianity, Liverpool Hope University: Wissenschaftler, die sich mit den Missionsbeziehungen zwischen Halle, Südindien und Nordamerika befassen, haben seit langem nach Ziegenhagens Briefen gesucht. Die Nachricht, dass ein Teil seines Nachlasses jetzt in Halle entdeckt worden ist, ist für die internationale Forschung verheißungsvoll.
Professor A. G. Roeber, Professor of Early Modern History and Religious Studies; Co-Director of the Max Kade German-American Research Institute, member of the Committee for Early Modern Studies (CEMS):
Man kann die Bedeutung dieser überraschenden Entdeckung kaum zu hoch einschätzen. Die Geschichte der Franckeschen Stiftungen versteht man richtig nur innerhalb des internationalen Kontexts sowie der Netzwerke, die Mitteleuropa mit Indien, Großbritannien, Nordamerika und anderen Weltteilen verbanden.
Prof. Dr. em. Herrmann Wellenreuther, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen:
Mit diesem Fund wird eine sehr wichtige Lücke in unserem Wissen über die Vernetzung des Halleschen Pietismus einerseits, seine Ausstrahlung in den angloamerikanischen Bereich andererseits, geschlossen werden können. Für die Forschung ist dies ein guter Tag.
Christina Jetter M.A., Universität Tübingen:
Die Briefe Ziegenhagens gelten schon lange als Fundgrube für Forschungen über den Pietismus. Sein nun endlich aufgefundener Nachlass umfasst vor allem theologische Texte. Sie werden uns helfen, das geistige Fundament des Gottesstreiters freizulegen: Was brachte diesen Mann dazu, unter persönlicher Selbstaufopferung sein Leben der Verbreitung des Halleschen Pietismus zu widmen?
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