Homo Portans. Tragen. Die Faszination des Selbstverständlichen
Interdisziplinäres Symposium veranstaltet vom Historischen Institut der Universität Mannheim in Kooperation mit dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden, 19. bis 21. Mai 2011 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden
Tragen ist ein Alltagsphänomen. Alle tun es, keiner tut es gern. Vielmehr klagt der moderne Mensch über chronische Überlastung und trägt dann doch mit Leidenschaft: Tüten, Hüte, Handys, Kinder, Mode, Tatoos und Vieles mehr. Eine wissenschaftliche Tagung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden widmet sich in insgesamt zwanzig Vorträgen der menschlichen Fähigkeit zu Tragen in kulturwissenschaftlich vergleichender Absicht.
Die menschliche Tragefähigkeit war ein wichtiger Faktor für die biologische, die kulturelle und die soziale Evolution der Frühmenschen. Gemeinsam mit der Sprachfähigkeit und mit der Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch war die menschliche Tragefähigkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbreitung von Homo portans „out of Africa“ über die gesamte Erde. Der Homo portans steht somit an der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur. Nur wer tragen kann, kann Besitz akkumulieren, Gemeinschaft organisieren, Bauwerke errichten, Rituale zelebrieren: ohne Tragen gäbe es keine Ordnung, keine Feste, keine Bauten, keine Wirtschaft, keine Kultur.
Die Dresdner Tagung eröffnet mit diesem Thema ein gänzlich neues Forschungsfeld. Dabei ist es gelungen, aktuellste Spitzenforschung aus gänzlich verschiedenen Disziplinen für das Thema zu gewinnen und nach Dresden zu holen: Friedemann Schrenk, Leiter des Senckenberg Forschungsinstituts spricht über Tragen als Voraussetzung für die Ausbreitung des frühen Menschen. Sibylle Wolf, eine Mitarbeiterin von Nicholas Conard am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen stellt „Schmuck und Kleidung tragen“ an den Anfang menschlicher Kultur. Techniken des Tragens aus ethnologischer Sicht stellt der Berliner Ethnologe Benedikt Pontzen zur Diskussion. In epochenübergreifender Perspektive vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert beobachten Jörg Wettlaufer (Universität Kiel) und Peter Steinbach (Universität Mannheim) den Einsatz des Tragens als Mittel der Bestrafung: Das mittelalterliche Steinetragen (eine Schandstrafe für Frauen) klingt fast human im Vergleich zur Verweigerung der Menschenwürde in den Arbeitslagern der NS-Zeit. Über die vielfältigen Missverständnisse von der „Bürde des weißen Mannes“ (Rudyard Kipling) im Kolonialismus spricht der Neuzeitler Johannes Paulmann (derzeit Oxford). Der Amsterdamer Verhaltenspsychologe Nils B. Jostmann fragt „Warum wir gewichtige Dinge wichtig finden“ und die sprachlichen Dimensionen des Tragens bearbeitet der Kieler Sprachwissenschaftler Alexander Lasch. Aus kunsthistorischer Perspektive skizziert Arie Hartog, der Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen eine „Ikonographie des Homo portans“. Den „Gepäckträger Mensch“ betrachtet die Museumsdidaktikerin Karin Fuchs aus Luzern und die Nürnberger Kuratorin Claudia Selheim stellt Erfahrungen aus der aktuellen Ausstellung „Reisebegleiter“ im Germanischen Nationalmuseum, mit dem Gepäck von Marlene Dietrich vor. Mit den „Bag Stories“ schließlich präsentiert die Wirtschaftspsychologin Ute Rademacher (Hamburg) Ergebnisse einer weltweiten Studie über Frauen und ihre Handtaschen. Der Papst als Träger im übertragenen Sinne, als Träger übermenschlicher Autorität wird vom Direktor der italienischen Akademie SISMEL vorgestellt. Der Dresdner Kultursoziologe Karl-Siegbert Rehberg, schließlich, beendet die Tagung am Samstag um 12.00 Uhr mit einem Vortrag „Der moderne Mensch auf der Suche nach Entlastung“.
Ein weiteres Ziel haben sich die Veranstalter (das Historische Institut der Universität Mannheim und das Deutsche Hygiene-Museum) gesetzt. Die Tagung möchte die Wissenschaft ganz bewusst nicht hinter verschlossenen Hörsaaltüren betreiben. Von Anfang an soll die interessierte Öffentlichkeit teilhaben. Tragen ist zugleich Alltagsphänomen und wissenschaftliches Thema.
Studierende des Mannheimer Master „Geschichte: Wissenschaft und Öffentlichkeit“ wagen dazu einen mutigen Vorstoß in einer Posterpräsentation am Freitagabend. Der Anspruch, in allgemein verständlichen Bildern und Texten je einen Aspekt aus der Kulturgeschichte des Tragens vorzustellen wird in 15 Postern mit verschiedensten Mitteln umgesetzt. Auch hier ist das Spektrum sehr weit: Vom Briefträger im spätantiken römischen Reich über zeremonielles Tragen im Mittelalter, die Geschichte der Sänfte im interkulturellen Vergleich, die Haut als Zeichenträger (Tatoos, Narbe, Schmiss), zu den Gefahren die der Menschen als „Krankheits-über-träger“ birgt (ein Bild das erst im späten 19. Jahrhundert mit der Bakteriologie Einzug in die Vorstellungswelt der Moderne hielt) bis hin zum Trauma vom Tragen auf der Flucht am Beispiel des 1945 zwangsevakuierten Dorfes Neuenbürg bei Bruchsal.
Dass die Wissenschaft Ideenträger braucht, formuliert treffend Christian Holtorf aus der Perspektive der Wissenschaftskommunikation. Nachhaltig wirksam lassen sich Ideen in Bildern transportieren. Diese werden in einer – ebenfalls für dieses Projekt einmaligen pragmatischen Kooperation zwischen Wissenschaft und zeitgenössischer Kunst generiert. Das Projekt soll auch in Dresden mit flankierenden Kunstaktionen in der Öffentlichkeit verankert werden. Die Künstlerinnen Anja Schindler und Sabine Hack präsentieren ganz neuartige künstlerische Positionen in Form von „tragbarer“ Kunst im Marta-Fraenkel-Saal des Deutschen Hygiene-Museums. In Fortsetzung einer in Berlin begründeten Tradition, bei der Anja Schindler diverse prägnant gekennzeichnete Trageobjekte in einer eindrücklichen Trageprozession durch die Gemäuer der Humboldt Universität tragen ließ, wird nun auch in Dresden diese Performance zu sehen sein. Es ist gelungen eine Zusammenarbeit mit Schülern des Evangelischen Kreuzgymnasiums herzustellen, die das Projekt im Rahmen des Kunstleistungskurses zu ihrer Sache machen: schwarz gekleidet gehen sie am 19.5.2011 zwischen 18.00 und 19.00 Uhr im Gänsemarsch mit blauen Koffern, Taschen, Gestellen etc. vom Deutschen Hygiene-Museum zur Frauenkirche und zurück. Der „Homo portans“ und die Idee von der „Faszination des Selbstverständlichen“ haben also in Dresden schon ihre ersten Träger gefunden.
Wissenschaftliche Leitung und Projektidee: Prof. Dr. Annette Kehnel,
Historisches Institut Universität Mannheim
Künstlerische Projektleitung: Anja Schindler, Klotten
Projektmanagement und Ansprechpartnerin: Dr. Ulrike Scherzer
Historisches Institut Universität Mannheim L7,7
68161 Mannheim
0621-181 2246
ulrike.scherzer@uni.mannheim.de
Die Veranstaltung wird unterstützt vom Förderverein des Historischen Instituts der Universität Mannheim
Anmeldung + Information
über www.homo-portans.de
oder wenden Sie sich bitte an das Projektmanagement
Die Teilnehmerzahl ist begrenzt
Tagungsbeitrag :
40.- Euro (incl. Getränke und Imbiss)
70.- Euro (incl. Abendempfang am 20.5.2011)
Veranstaltungsort
Deutsches Hygiene-Museum Dresden
www.dhmd.de
Martha-Fraenkel-Saal
Lingnerplatz 1
01069 Dresden
Tagungsablauf
Donnerstag, 19.5.2011
16.00 Uhr Begrüßung / Einführung
Prof. Klaus Vogel (Deutsches Hygiene-Museum Dresden)
Prof. Dr. Annette Kehnel (Geschichte, Universität Mannheim)
HOMO PORTANS: Grenzgänger zwischen Natur und Kultur
Leitung: Prof. Dr. Annette Kehnel (Mannheim)
16.30 - 18.00 Uhr
Die Taschen der Tiere: Einblick in die Evolution des Tragens
Dr. Barbara I. Fruth (Primatenforschung, MPI Leipzig)
Die Anfänge unserer Kultur - Schmuck und Kleidung tragen:
Befunde und Funde aus der jüngeren altsteinzeit
Sibylle Wolf M.A. (Ältere Urgeschichte, Universität Tübingen)
Der moderne Mensch als Beuteltier. Eine kurze Geschichte des Tragetuchs
Prof. Dr. Timo Heimerdinger (Europäische Ethnologie, Universität
Innsbruck)
19.00 Uhr Öffentlicher Abendvortrag
Tragen, jagen, wagen: Die Ausbreitung der frühen Menschen
Prof. Dr. Friedemann Schrenk (Paläoanthropologie, Senckenberg Forschungsinstitut, Frankfurt)
Freitag, 20.5.2011
HOMO PORTANS im Zivilisationsprozess
Leitung: Prof. Dr. Sabine v. Heusinger (Köln)
9.00 - 10.30 Uhr
Techniken des Tragens aus ethnologischer Sicht
Benedikt Pontzen (Ethnologie, Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies)
Das Steintragen als Frauenstrafe im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
Dr. Jörg Wettlaufer (Geschichte, Universität Kiel)
Verweigerte Menschenwürde: tragen als Strafe im Jahrhundert der Diktaturen
Prof. Dr. Peter Steinbach (Geschichte, Universität Mannheim)
11.00 - 12.30 Uhr
„Die Bürde des weißen Mannes“ Über das tragen im europäischen Kolonialismus vom späten 19. Jahrhundert bis zur Dekolonisation
Prof. Dr. Johannes Paulmann (Neuere Geschichte, Universität
Mannheim/ Magdalen College, Oxford)
Über die Psychologie des Tragens: Warum wir gewichtige Dinge wichtig finden
Dr. Nils B. Jostmann (Sozialpsychologie, Universität Amsterdam)
Tragen – Sprachliche Dimensionen des Konzeptes
Dr. Alexander Lasch (Sprachwissenschaft, Universität Kiel)
HOMO PORTANS zwischen Wissenschaft - Öffentlichkeit - Kunst
Leitung: Prof. Dr. Eva Eckkrammer (Mannheim)
14.00 - 15.30 Uhr
Wissenschaft braucht Ideenträger
Prof. Dr. Christian Holtorf (Wissenschaftsforschung und Wissenschaftskommunikation, Hochschule Coburg)
Zur Ikonographie des Homo Portans
Dr. Arie Hartog (Gerhard-Marcks-Haus, Bremen)
Perspektivenwechsel. Erfahrungen an den Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst
Anja Schindler (Künstlerin, Klotten)
16.00 -17.00 Uhr Diskussion des Zwischenstands
ab 17.30 Uhr Posterpräsentation
„So trägt der Mensch“ Masterstudierende Historisches Institut Universität Mannheim
Leitung: Dr. Ulrike Scherzer, Universität Mannheim in Zusammenarbeit mit Anja Schindler, Klotten
Samstag, 21.5.2011
HOMO PORTANS von der Last zur Lust des tragens
Leitung: Prof. Dr. Johannes Paulmann (Mannheim/ Oxford)
9.00 - 10.30 Uhr
„Gepäckträger Mensch“ in der Alpenregion
Prof. Dr. Karin Fuchs (Geschichts- und Museumsdidaktik,Pädagogische Hochschule Luzern)
Der Koffer als Reisebegleiter - mehr als nur Gepäck
Dr. Claudia Selheim (Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg)
Bag Stories - eine weltweite Studie über Frauen und ihre Handtaschen
Dr. Ute Rademacher (Wirtschaftspsychologie, Marktforschung Colibri Research, Hamburg)
HOMO PORTANS auf der suche nach Entlastung
Leitung: Prof. Dr. Annette Kehnel (Mannheim)
11.00 - 12.30 Uhr
Tragen lassen - tragende Göttinnen
Prof. Dr. Maria Häusl (Theologie, TU Dresden)
Der Papst als homo portans und homo portatus
Prof. Dr. Agostino Paravicini Bagliani (Geschichte, Universität Lausanne)
Der moderne Mensch auf der Suche nach Entlastung
Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg (Kultursoziologie, TU Dresden)
Abschlussdiskussion
Weitere Informationen:
http://www.homo-portans.de
http://www.dhmd.de