Mission Ernährung. Wenn Gesundheit zum Diktat wird
Das Wissen über die Entstehung von Krankheiten und über Möglichkeiten der Prävention wächst ständig an. Die Zahl derer, die sich bewusst ernähren, bewegen und entspannen auch. Gesundheit ist eine „Volksbewegung“ geworden. Auf der anderen Seite steigt aber auch die Zahl der Erkrankten und Übergewichtigen, die ins Visier verschiedenster Interventionsmaßnahmen geraten. Wie ist diese Schere zu erklären? Was bedeutet Gesundheit überhaupt? Und dürfen, können oder müssen Menschen zu ihrem gesundheitlichen Glück gezwungen werden? Diese Fragen diskutierten die rund 100 Teilnehmer am 25. und 26. September 2013 auf dem 17. Heidelberger Ernährungsforum.
Was ist Gesundheit?
Gesundheit ist, so Prof. Dr. Eberhard Göpel vom Kooperationsverbund Hochschulen für Gesundheit Berlin eine säkulare Bewältigungsform von Lebensangst, die auf einem wachsenden Bewusstsein über die Endlichkeit des Lebens basiert. Gerade in Zeiten des Wandels, in denen traditionelle Lebensorientierungen wie Religion oder Familie nicht mehr tragen und neue Sinnkonstruktionen notwendig werden, sei Gesundverhalten ein Versuch, Risiken auszuschließen. Gesundheit entsteht im Alltag als ein kulturelles Gemeingut menschlichen Zusammenlebens, als Nebeneffekt von Faktoren, die das Leben lebenswert machen, wie emotionale Bindungen oder ein erfüllter Beruf. Es bedarf deshalb einer Kultur des Austauschs, in der sich Hoffnungen und Bedürfnisse entwickeln können. Zugleich bedeutet dies, dass der private Haushalt und der persönliche Nahraum, wie der Stadtbezirk oder die Gemeinde, für die Gesundheit des Einzelnen immer wichtiger werden.
Gesundheit als Politikum
Gesundheit und Ernährung geraten regelmäßig zum Politikum – und zwar vor allem dann, wenn Mängel im Umgang mit Lebensmitteln skandalisiert oder aufgrund alarmierender Zahlen neue Gesundheitsinitiativen ins Leben gerufen werden. Für Rainer Steen vom Gesundheitsamt des Rhein-Neckar-Kreises hängt das mit unserem hohen Grad an Individualisierung zusammen: Dieser beschere uns zwar eine große Entscheidungsfreiheit; diese bringe aber wiederum Entwicklungen mit sich, die gesellschaftliche Kontroll- und Normierungsversuche auf den Plan rufen – wie die Diskussionen um die (Nicht-)Verbeamtung von Übergewichtigen zeigen. Zwei Trends sind für ihn erkennbar: 1. eine verstärkte Individualisierung von Verantwortung, in die sich eine subtile Form (staatlicher) Kontrolle einwebt, verbunden mit ambivalenten Botschaften aus Medien und Industrie. Und 2. die Gewichtung von Ernährung als vergesellschaftendes Prinzip mit einer ideologischen, ökonomischen aber auch sozial diskriminierenden Aufladung.
Hauptsache gesund!?
Dass Gesundheit schon lange nicht mehr nur Rahmenbedingung für ein glückliches Leben ist, zeigte Dr. Gesa Schönberger von der Dr. Rainer Wild-Stiftung Heidelberg. Der Druck auf den Einzelnen, gesund zu leben, nehme stetig zu. Zum einen sei das der Druck von außen, das heißt staatlicher Druck durch Maßnahmen wie die häufig diskutierte Fettsteuer; institutioneller Druck wie Bonisysteme der Krankenkassen; Druck von Peers oder „Vorbildern“ wie Angelina Jolie mit ihrer Brustamputation und Druck von der Gesundheitswirtschaft durch faszinierende Möglichkeiten wie die pränatale Diagnostik. Zum anderen steige aber auch der innere Druck, den Menschen durch rigide Vorsätze auf sich selbst ausüben – auch und gerade bei ihrer Ernährung. Eine explizite Pflicht zur Gesundheit gebe es zwar nicht; dennoch fühlen sich immer mehr Menschen dazu verpflichtet, Kontrolle über ihren Körper auszuüben – alles zum Wohle der Gesundheit.
Zwanghaft gesund?
Gesundheit kann zumindest in Teilen zum Diktat werden und gute Absichten können sich ins Gegenteil verkehren, erläuterte Prof. Dr. Wolfgang Herzog vom Universitätsklinikum Heidelberg am Beispiel der Orthorexia nervosa, dem „Zwang, gesund zu essen“. Mit Blick auf z. B. Lebensmittelskandale sei es durchaus nachvollziehbar, wenn man sich verstärkt mit Ernährung beschäftigt. Doch wenn die Gedanken nur noch um Inhaltsstoffe, Nährwerte und Anbaumethoden kreisen, scheint die Grenze des Gesunden überschritten. Häufig haben Orthorektiker das Bedürfnis, ihr Umfeld zu missionieren; sie sondern sich ab, was folgt ist die soziale Isolation. Von einem eigenen Krankheitsbild mit klar definierten Diagnosekriterien mag Herzog aber dennoch nicht sprechen. Viel wichtiger ist für ihn die Frage, was tiefenpsychologisch hinter dem Verhalten stecke. Denn in der Regel hat das Auftreten solcher Störungen einen Sinn – nämlich irgendetwas zu regulieren, das sonst nur sehr viel schwerer auszuhalten wäre. Die Gründe können dabei so vielfältig sein, wie es Menschen gibt.
Herdenverhalten ade?
Menschliches Verhalten wird durch viele Faktoren beeinflusst, das weiß auch Prof. Dr. Georg Felser von der Hochschule Harz, Wernigerode. Wenn Menschen in Gesellschaft essen, kann sich das auf die Auswahl, die Verzehrsmenge und auch auf die Einstellung gegenüber dem Gegessenen auswirken. Verantwortlich dafür sind zum einen automatische Reaktionen, wie z. B. Ankereffekte: Isst mein Gegenüber viel, esse ich auch viel. Allerdings, so Felser, werden diese Automatismen in vielen Fällen von sozialen Normen überlagert. Häufig wird nicht einfach das Verhalten der anderen nachgeahmt, sondern es wird abgeglichen mit eigenen Wertvorstellungen. Mehr gegessen wird nämlich meist nur dann, wenn die Stimulusperson beispielsweise nicht übergewichtig ist. Das heißt, andere Menschen beeinflussen uns nicht im Sinne des häufig genannten „Herdenverhaltens“, sondern indem sie bestimmte Normen stiften oder für Normen stehen, die uns entweder an unsere Ziele erinnern oder die – Stichwort „Erstes Date“ – selbst unser Ziel bilden.
Der Marlboro-Mann
Männer tun zwar nicht per se weniger für ihre Gesundheit als Frauen, wie das Beispiel Bewegung zeigt. Trotzdem verhalten sie sich in der Regel gesundheitsriskanter, erläuterte Prof. Dr. Monika Sieverding von der Universität Heidelberg. Das hat nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun, sondern vielmehr mit Geschlechterrollen, d. h. mit einem Selbstkonzept. Die traditionelle männliche Rolle erwartet von Männern, dass sie stark, unabhängig und unverletzbar sind. Studien konnten zeigen, dass Männer, die sich mit diesem traditionellen Maskulinitätsideal, sprich dem „Marlboro-Mann“ identifizieren, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention für „unmännlich“ halten, gesundheitsriskantes Verhalten wie rauchen, trinken oder „reckless driving“ dagegen für „männlich“. Will man Marlboro-Männer für Vorsorgeuntersuchungen oder gesunde Ernährung interessieren, sei es deshalb wichtig, dass die Maßnahmen mit den Anforderungen der männlichen Rolle vereinbar seien – im Sinne von „No sissy stuff“!
Armut kostet Lebensjahre
Gesundheit ist aber nicht individuell zu verstehen, so Dr. Diana Sahrai von der Universität Duisburg-Essen. Schichten und Milieus, die ethnische Zusammensetzung einer Gesellschaft, Rechtsverhältnisse oder auch Arbeitsmärkte beeinflussen das (Gesundheits-)Verhalten. Diese Dimensionen bilden Sozialisationskontexte, in denen Menschen aufwachsen und in denen sie ihr Gesundheitsverhalten erwerben. Betrachtet man die Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken, lassen sich signifikante Unterschiede entlang dieser Dimensionen erkennen: Ein hoher sozioökonomischer Status ist eng mit einem günstigen Gesundheitsverhalten mit vergleichsweise geringen Erkrankungsrisiken und guten psychosozialen Bewältigungsressourcen verbunden; ein niedriger sozioökonomischer Status kann dagegen die Lebenserwartung in Deutschland bis zu neun Jahren verringern.
Wie sind Ressourcen verteilt?
Armut spielt auch für die Ressourcenorientierte Gesundheitsförderung eine wichtige Rolle, wie Dr. Antje Richter-Kornweitz von der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. erläuterte. Denn Gesundheitsförderung funktioniere nur, wenn man herausfindet, was Menschen handlungsfähig macht, wo ihre individuellen aber auch wo ihre externen Ressourcen liegen und wo man diese aufbauen könnte. Es reiche nicht, gesundheitliche Risiken und Belastungen soweit wie möglich zu vermindern. Auch die Stärkung von psychologischen und psychosozialen Schutzfaktoren wie Optimismus, eine enge emotionale Bindung zu einer Bezugsperson oder soziale Unterstützung kann die Wirkung von gesundheitsförderlichen Maßnahmen verbessern. Wesentlich ist also nicht alleine das Verhalten, auch die Rahmenbedingungen dürfen nicht vernachlässigt werden.
Die Rolle der Gesundheitsexperten
Welche Rolle die Gesundheitsexperten in diesem Szenario einnehmen, zeigte Prof. Dr. Uwe Bittlingmayer von der Pädagogische Hochschule Freiburg – denn auch diese haben eine Position im sozialen Raum, von der aus sie ihre Umwelt wahrnehmen und bewerten. Gesundheitsexperten arbeiten innerhalb von gesellschaftlichen Verhältnissen, die sozial ungleich sind; sie arbeiten mit Programmen und Konzepten, die bestimmte Gruppen ausgrenzen oder nicht erreichen; und sie sind mit ihren Angeboten an der Produktion gesellschaftlicher Normalität und Legitimität beteiligt. Diese sozioökonomischen Bedingungsfaktoren von Gesundheit dürfen nicht ausgeblendet werden, da sonst Gesundheit sehr schnell zu einem individuell zu verantwortenden moralischen Gut wird und Gesundheitsberatung zur Abwertung bestimmter Lebensziele führe.
Stiefkind Gesunderhaltung
Gesundheitsberatung hat eine lange Tradition, wie Prof. Dr. Dr. Daniel Schäfer von der Universität Köln in seinem historischen Abriss zur Gesundheit darstellte. Von der Antike an waren Gesundheitsratgeber am Individuum orientiert und nach den sechs Gruppen der Diätetik (Behandlung durch die Lebensweise) geordnet, bei der auch die Ernährung eine wichtige Rolle spielte. Gesunderhaltung stand im Mittelpunkt des Bemühens. Seit Mitte des 19. Jh. fokussiert sich die Medizin jedoch verstärkt auf die objektive Pathologie und verlässt das jahrtausendealte diätetische Prinzip. Im Fokus steht nun die Behandlung von Krankheiten. Sicherlich entwickele sich die Medizin weiter, wie man z. B. an der steigenden Zahl an Vorsorgeuntersuchungen sieht. Aber auch hier gehe es nicht um Gesunderhaltung, sondern um die Früherkennung von Krankheiten. Prävention durch gesunde Ernährung oder Bewegung werde heute vor allem „von Laien“ problematisiert und diskutiert; in der Schulmedizin finde sie dagegen kaum Beachtung, was sicherlich auch mit der Nichtfinanzierung durch die Krankenkassen zusammenhänge.
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Gesunderhaltung spielt auch im Arbeitsleben eine wichtige Rolle, machte Dr. Burkard Schmidt vom Mannheim Institute of Public Health deutlich. Die teuersten Gesundheitsrisiken, wie chronische Krankheiten oder psychische Fehlbeanspruchung, seien präventiv durch ein Betriebliches Gesundheitsmanagement (BMG) beinflussbar, zu dem auch die Förderung einer ausgewogenen Ernährung gehört. Zwar sei es nicht immer leicht, Unternehmen dafür zu gewinnen, da sich Gesundheit nur schwer in einen adäquaten monetären Wert umrechnen ließe. Dennoch habe BMG nichts mit Sozialromantik zu tun, sondern sei eine ökonomische Notwendigkeit. Wichtig ist allerdings, gewisse „Regeln“ zu befolgen. So dürfe man sich nicht alleine auf den Absentismus fokussieren, denn Fehlzeiten verursachen nur einen (kleinen) Teil der Ausfallkosten. Mindestens ebenso wichtig sei der Präsentismus, der zwar schwer messbar sei, jedoch die höchsten Ausfallkosten verursacht und das größte Präventionspotenzial birgt.
Das Projekt GUT DRAUF
Als ein erfolgreiches Beispiel für eine ganzheitliche, ressourcenorientierte Gesundheitsförderung, die sich an vielen auf der Tagung angesprochenen Aspekten orientiert, stellten Reinhard Mann, Deutsches Institut für Kinder- und Jugendgesundheit, Berlin und Prof. Dr. Steffen Schaal, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, die Jugendaktion GUT DRAUF der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor. Die theoretische Grundlage für die Aktion liefert ein Konzept mit drei Säulen, die in den wichtigsten Lebensbereichen von Jugendlichen erlebbar werden: ausgewogene Ernährung, ausreichende Bewegung und ein bewusster Umgang mit Stress. Persönliche Lebenskompetenzen sollen früh gestärkt und äußere Lebensbedingungen verbessert werden. Die Umsetzung des GUT DRAUF-Konzepts ist eine sozialräumliche Aufgabe, die eine Vernetzung der kommunalen Akteure notwendig macht – besonders um Jugendliche aus benachteiligten Lebenssituationen zu erreichen. Die Umsetzung der Aktion wird regelmäßig überprüft und – trotz aller empirischen Schwierigkeiten der Wirksamkeitsmessung – scheinen die Ergebnisse den Ansatz von GUT DRAUF zu bestätigen. Einig waren sich beide: Gesundheitsförderung ohne erhobenen Zeigefinger kann gelingen!
Fazit
Die Tagung zeigte, dass Gesundheit nicht individuell zu verstehen ist, sondern immer auch eine Frage der sozialen Schicht, der Bildung und der verfügbaren Finanzen ist. Gesundheit ist somit auch nicht alleine Sache der Medizin, sondern eine vielschichtige Angelegenheit, die eine transdisziplinäre Herangehensweise erfordert. Es wurde deutlich, dass aktuelle Probleme zwar nicht in der Theorie gelöst werden können, dass diese aber dazu beitragen kann, einen Diskurs zu etablieren, der über das Bestehende hinaus denkt. Orientierungshilfe biete die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, die immer wieder angeführt wurde. Denn dort sei Gesundheitsförderung als ein Konzept definiert, das auf allen gesellschaftlichen Ebenen ansetzt und das auf die Analyse und Stärkung der Gesundheitsressourcen der Menschen abzielt – Ernährung ist, neben Bewegung und Stressbewältigung, immer ein wichtiger Teil davon. Eine Balance zwischen kollektiven, staatlichen und rechtlichen Vorgaben sowie der Autonomie des Einzelnen muss immer wieder ausgehandelt und demokratisch entschieden werden, so das Fazit von Dr. Beate Grossmann von der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. Bonn. Der Slogan „Hauptsache gesund!“ genügt nicht mehr!
Das Forum fand in Kooperation mit der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. statt.
Ein Tagungsband mit den überarbeiteten Vorträgen ist für Herbst 2014 geplant.
Weitere Informationen:
http://www.gesunde-ernaehrung.org/aktivitaeten/heidelberger-ernaehrungsforum/14-heidelberger-ernaehrungsforum