Jugend und Ernährung. Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung
Jugendliche sind auf der Suche nach der eigenen Identität und pendeln zwischen Eigenverantwortung, Peergroup und dem Wunsch, in Schule und Familie versorgt zu werden. Es ist eine Phase der Veränderungen und wie jeder Übergang geht auch dieser nicht ohne Reibungsverluste. Doch wie sieht die Ernährungswirklichkeit von Jugendlichen genau aus? Was beeinflusst ihr Ernährungsverhalten? Und können wir überhaupt von den Jugendlichen als Zielgruppe sprechen? Diese und viele weitere Fragen diskutierten die rund 130 Teilnehmenden am 1. und 2. Oktober 2014 auf dem 18. Heidelberger Ernährungsforum, das in Kooperation mit der Plattform Ernährung und Bewegung e.V. stattfand.
Zeit der Veränderungen
Die Jugend beginnt mit der Pubertät und ist eine Phase des Übergangs, erläuterte Prof. Dr. Burkhard Gniewosz von der LMU München. Sie ist geprägt durch vielfältige körperliche und kognitive Veränderungen und der Suche nach der eigenen Identität. Es stehen Entwicklungsaufgaben an, die es zu bewältigen gilt: Jugendliche müssen lernen, mit den Veränderungen ihres Körpers umzugehen, sie lösen sich von ihren Eltern, bauen Beziehungen zu Gleichaltrigen auf, entwickeln ein eigenes Werte- und Normensystem und erlernen eigenverantwortliches Handeln. Auch das Risikoverhalten steigt im Jugendalter an – in allen Kulturen und sogar bei anderen Spezies. Und noch riskanter wird es, wenn Jugendliche in der Gruppe unterwegs sind, führte Gniewosz aus. Wann genau die Jugendphase endet, bzw. das Erwachsenenalter beginnt, ist schwer zu definieren. Erwachsen zu sein ist eher ein subjektives Gefühl, das sich – im Gegensatz zu früheren Zeiten – bei jedem Menschen individuell über Jahre hinweg entwickeln kann (emerging adulthood).
Wie ticken Jugendliche?
Im Zeitalter der Digitalisierung stellt sich die Welt der Jugendlichen deutlich differenzierter dar als vor 30 Jahren. Deshalb reicht es nicht, so Manfred Tautscher von der Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH, Jugendliche nach Alter und Geschlecht zu unterscheiden. Wichtiger sind ihre soziale Lage (Bildung, Wohnumfeld), ihre Lebensstile (Gewohnheiten, Rituale) und ihre Werte (Interessen, Orientierungen). Tautscher unterscheidet insgesamt sieben Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren, deren Grundorientierung von traditionell bis postmodern reicht: So gibt es neben den konservativ-bürgerlichen Jugendlichen mit geringer Lifestyle-Affinität beispielsweise auch die „Materialistischen Hedonisten“, die Spaß haben möchten und sehr markenbewusst sind, oder die „Sozial-Ökologischen“, die Nachhaltigkeit und Gemeinwohl als wichtig erachten und die Überflussgesellschaft kritisieren. Nach Tautscher spiegeln sich die unterschiedlichen Werte und Lebensstile der Jugendlichen auch in ihrem Konsum- und Ernährungsverhalten wider. Und nur wer versteht, was die Jugend bewegt, könne sie auch ansprechen und motivieren.
Wie konsumieren Jugendliche?
Jugendliche geben heute rund 5 Mrd. Euro für Essen und Trinken aus, deutlich mehr als für Spiele, so Ingo Barlovic von der iconkids & youth international research GmbH. Welche Produkte sie kaufen und was sie essen, hängt von vielen Faktoren ab: etwa dem Einfluss der Peergroup, den Eltern, dem Lebensstil und der (medialen) Umwelt. Auch die Polysensualität spielt eine wichtige Rolle. Das heißt, ein Produkt sollte nicht nur praktisch und günstig sein, sondern über mehrere (Geschmacks-)Komponenten und eine anregende Form verfügen, ein angenehmes Mundgefühl hervorrufen und einen ansprechenden Namen haben. Sind diese Kriterien erfüllt, ist Gesundheit kein Hinderungsgrund. Gesundheit bzw. gesundes Essen sind allerdings keine Grundbedürfnisse, sondern eher Mittel zum Zweck, beispielsweise um gut auszusehen und fit zu sein – wichtige Voraussetzungen für Spaß am Leben und zahlreiche Freunde. Auch das gemeinsame Kochen ist beliebt: Beim Kochen können Jugendliche mit den Eltern Zeit verbringen, ohne lächerlich zu wirken, sie können zeigen, was in ihnen steckt, etwas Neues erschaffen oder auch in der Schulküche flirten. Letztendlich, so Barlovic, ist der Reiter (gesunde Ernährung) immer nur so gut wie sein Pferd (Grundbedürfnis, etwa Spaß).
Yes VeGan
Der vegane Lebensstil ist nach Ansicht von Dr. Bernd-Udo Rinas, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, in der Gesellschaft angekommen. Neben veganen Lebensmitteln und Kleidung gibt es eine Vielzahl veganer Kosmetikprodukte oder auch vegane Energie. Vegan lebende Jugendliche sind im Vergeich zu ihren Altersgenossen oft sehr viel besser informiert über das, was sie essen. Sie setzen sich Rinas zufolge intensiv und umfassend mit Lebensmitteln, deren Inhaltsstoffen und Produktionsbedingungen auseinander. In gesellschaftlichen Umbruchzeiten und Zeiten der Unsicherheit bedeutet der Veganismus für Jugendliche ein ganz persönliches, schnell umzusetzendes Lebenskonzept, das sich klar von der Erwachsenenwelt abgrenzt. Ganz wesentlich trägt das Internet zur Verbreitung des veganen Lebensstils bei: Junge Veganer informieren und vernetzen sich und bauen eine eigene soziale Infrastruktur auf. Rinas, der Jugendliche als „Seismographen der Gesellschaft“ sieht, geht davon aus, dass Fleisch essen einmal genauso uncool sein wird wie heute das Rauchen.
Let me entertain you
Für Dr. Beate Großegger vom Wiener Institut für Jugendkulturforschung sind jugend-kulturelle Trends nicht nur Modeerscheinungen, sondern eingebettet in gesellschaftliche Veränderungen. Gesunde Ernährung ist nur in wenigen ausgewählten Szenen Thema, wie z.B. bei Vegetariern oder Veganern. In vielen Jugendkulturen schwingt die Ernährung ihrer Meinung nach eher als Hintergrundgeräusch mit. Das Freizeitprinzip überträgt sich dabei auf die Ernährung: Essen sollte allzeit verfügbar sein, spontan Bedürfnisse befriedigen und zum jeweiligen „Lifestyle“ passen. Eine gesunde oder ökologische Ernährungsweise finden viele Jugendliche langweilig. Bio hingegen passt in ihre Lebenswelt, zumindest in die von bildungsnahen Jugendlichen. Bei den „Fast Food Freaks“ sieht das anders aus. Ernährung ist ein Stilelement und muss in das persönliche Lebenskonzept passen. Deshalb haben auch die gesunden Lifestyles der Eltern- und Großelterngeneration für Jugendliche kaum Leitbildfunktion. Je nach Grundmentalität (Genussmensch, Körperkapitalist oder Wohfühltyp) sind andere Ansätze notwendig. Und manche Jugendlichen, wie die resignierten und sozial abgehängten, werden sich nie für Gesundheitsthemen interessieren, da für sie andere Probleme im Vordergrund stehen, so Großegger.
Herausforderung Stoffwechselstörung
Jugendliche mit einer angeborenen Stoffwechselstörung wie der Phenylketonurie oder Galaktosämie können nicht frei entscheiden, was sie essen und was nicht, wie Prof. Dr. Thomas Lücke, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Ruhr-Universität Bochum, aufzeigte. Sie müssen ihr Leben lang Diät halten und anhand von Lebensmittellisten ihre tägliche Kost berechnen. Lücke zufolge können einige Jugendliche durchaus gut und offen mit ihrer Krankheit umgehen; vielen fällt es aber gerade in diesem Alter schwer, die Notwendigkeit der Diät zu akzeptieren. Andere Dinge werden wichtiger: Sie fühlen sich ausgegrenzt, wollen das essen, was in der Peergroup gerade „in“ ist und an Klassenfahrten teilnehmen, ohne an ihre strikte Ernährung denken zu müssen. Häufig kommt es in dieser Phase zu Konflikten in der Familie. Diätferien, Kochkurse, Gesprächsrunden mit anderen betroffenen Jugendlichen sowie eine motivierende und eventuell auch psychologische Betreuung kann den Jugendlichen helfen, selbstverantwortlich mit der Krankheit umzugehen. Wichtig sei es, die Jugendlichen ernst zu nehmen und sie in die Behandlung mit einzubeziehen.
Essen und Psyche
Mit den Wechselwirkungen von Ernährung und Psyche in der Pubertät beschäftigte sich Dr. Özgür Albayrak vom Universitätsklinikum Essen. Albayrak untersucht die Zusammenhänge von Körpergewicht, -fett und psychopathologischen Auffälligkeiten (wie sozialer Rückzug, Ängstlichkeit, Depressionen, Aggressivität, Hyperaktivität) bei Kindern und Jugendlichen von 7 bis 17 Jahren. Er zeigte, dass es Hinweise auf eine Korrelation zwischen Psyche und Körperfettmasse gibt, die Richtung sei allerdings unklar bzw. müsse individuell untersucht werden. So kann es sein, dass Übergewicht aufgrund psychologischer Wirkmechanismen (z. B. negatives Selbstbild, Hänseleien) die Entwicklung psychischer Störungen begünstigt. Andererseits ist es aber auch möglich, dass eine psychische Störung zu Übergewicht oder einer Essstörung führt. Außerdem kam Albayrak auf das Thema Ess-Sucht zu sprechen, die gehäuft bei jugendpsychiatrischen Patienten vorkommt. Dabei handelt es sich, anders als bei der Alkoholsucht, nicht um eine substanzgebundene Sucht, sondern, ähnlich der Spielsucht, um eine nicht-substanzgebundene Verhaltenssucht. Sehr fettige, süße oder salzige Lebensmittel können zwar – ähnlich den Spielautomaten – den Weg zur Ess-Sucht ebnen, maßgeblich sei aber vielmehr das Essverhalten.
Aus dem GleichGewicht
Bewegungsmangel und falsche Ernährung treten häufig gemeinsam auf – in der Folge geraten Kinder und Jugendliche aus dem Gleichgewicht: 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, 6 Prozent adipös. Laut Dr. Anja Moß, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm, steigen die Zahlen seit einiger Zeit nicht mehr an, Entwarnung gibt sie dennoch nicht. Bisherige Präventionsmaßnahmen zielen insbesondere auf die Verhaltensprävention ab, zeigen allerdings keine langfristigen Effekte. Wichtig ist deshalb eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention, denn die Ursache von Übergewicht sieht Moß vor allem in den adipogenen Lebensbedingungen. Schulbasierte Interventionen sind ihrer Ansicht nach besonders geeignet, da durch die Schulpflicht alle Jugendlichen erreicht werden, über die Lehrer der Kontakt zu den Eltern besteht und die Ressourcen der Schule genutzt werden können. Zudem sollten sämtliche Verantwortungsbereiche an einem Strang ziehen: die Famile, die Schule und die Peergroup ebenso wie die Kommune, die Wirtschafts- und Organisationsstrukuren sowie Politik und Gesetzgebung. Nach Moß sind die neuen Medien, die zwar durch ein „zu viel“ an Konsum Übergewicht begünstigen, durchaus geeignet für Präventionsmaßnahmen und die gezielte Ansprache von Jugendlichen.
Jugend im Web 2.0
Smartphones, Tablets & Co. sind aus dem jugendlichen Alltag nicht mehr wegzudenken; mediale und außermediale Welt amalgieren; „Enjoyment“ wird immer wichtiger. Wie die Ansprache von Jugendlichen über das Web 2.0 gelingen kann, zeigten Prof. Dr. Silke Bartsch, Prof. Dr. Steffen Schaal und die Studierenden Alexandra Filippidis und Jasmin Marquardt von den Pädagogischen Hochschulen Karlsruhe und Ludwigsburg mit dem MILE-Projekt (Move – Interact – Learn – Eat). Das Projekt baut eine landesweite Plattform auf, mit der digitale Lern- und Informationsangebote entwickelt und verfügbar gemacht werden. Durch diese spielerische Art des Lernens sollen sich die Jugendlichen mehr bewegen, über die Lebensmittelproduktion vor Ort informieren und ausgewogenes Essen entdecken. Die Wissenschaftler haben eine digitale Bildungsroute per QR-Codes entwickelt, die die Jugendlichen einscannen und dabei Quizfragen beantworten. Die erste Schatzsuche schickt Jugendliche auf die Suche „nach dem Karlsruher Superbrot“, das am Ende mit dem Lehrer und den Mitschülern verkostet wird.
Fazit
Gerade wenn es um Ernährungsfragen geht – sei es in Studien oder bei Präventionsmaßnahmen – werden Kinder und Jugendliche häufig in einen Topf geworfen. Die Tagung hat jedoch gezeigt, dass sich Jugendliche in ihrem Ernährungsverhalten deutlich von Kindern unterscheiden, deren Ernährung vor allem durch elterliche Versorgung und Gemeinschaftsverpflegung bestimmt wird. Jugendliche wollen nach ihren eigenen Vorstellungen und Werten leben, sie orientieren sich neu und suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Damit gewinnt die identitätsstiftende Funktion des Essens an Bedeutung. „Allerdings gibt es den Jugendlichen nicht“, zog Dr. Gesa Schönberger, Geschäftsführerin der Dr. Rainer Wild-Stiftung, Bilanz. Die Jugend präsentiert sich heute sehr heterogen: So unterschiedlich die Lebenswelten und -stile der Heranwachsenden sind, so vielfältig sind auch ihre Ernährungsgewohnheiten. Wer im Austausch mit ihnen bleibt, wird ihre Werte und Beweggründe auch in Punkto Ernährung verstehen. Auch wenn Jugendliche die meiste Zeit mit Gleichaltrigen verbringen, sind Eltern oder Lehrer nach wie vor von großer Bedeutung. Erwachsene bleiben, das hat die Tagung gezeigt, Begleiter und wichtiger Ansprechpartner für Jugendliche. Dabei hilft eine Kommunikation auf Augenhöhe. Und abschließend noch ein Trost für alle Eltern, deren pubertierende Kinder sich vielleicht nicht so ernähren, wie sie es gerne hätten: Anders als die Peergroup, die vor allem in der Jugendphase beeinflusst, wirken die Kindheit und das Vorbild der Eltern langfristig. Einmal erlernte Ernährungsgewohnheiten und (ess-)kulturelle Werte prägen oft ein Leben lang. Und so finden viele Jugendliche im jungen Erwachsenenalter, wenn bestimmte Entwicklungsaufgaben abgeschlossen sind, zu einem früheren Ernährungsverhalten zurück.
Ein Tagungsband mit den überarbeiteten Vorträgen ist für Herbst 2015 geplant.
Kontakt
Dr. Rainer Wild-Stiftung
Nicole Schmitt
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presse@gesunde-ernaehrung.org
www.gesunde-ernaehrung.org
Dr. Rainer Wild-Stiftung
Die gemeinnützige Dr. Rainer Wild-Stiftung in Heidelberg arbeitet zu den Themen Ernährungsverhalten und Ernährungsbildung, Esskultur sowie Geschmack und Genuss. Eigene Forschung und Wissenstransfer in Form von Veranstaltungen und Publikationen bilden den Kern ihrer Arbeit. Wissenschaftlichkeit, Souveränität und ein fachübergreifender Ansatz sind ihre Basis. Um eine möglichst große Wirkung zu erzielen, richtet sich die Stiftung an Fachleute, Wissenschaftler und Multiplikatoren.
Plattform Ernährung und Bewegung e.V. (peb)
peb ist ein Zusammenschluss von Vertretern aus öffentlicher Hand, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Eltern und Ärzten. Über 100 Mitglieder setzen sich bei peb aktiv für eine ausgewogene Ernährung und mehr Bewegung als wesentliche Bestandteile eines gesundheitsförderlichen Lebensstils bei Kindern und Jugendlichen ein.
Weitere Informationen:
http://www.gesunde-ernaehrung.org/veranstaltungen/heidelberger-ernaehrungsforum/heidelberger-ernaehrungsforum-2014 - Programm, Interview mit Jugendkulturforscherin Dr. Beate Großegger, Wien