Experte erklärt Whistleblowing als Kontroverse zwischen Loyalitätspflicht und Zivilcourage
Über 150 Gäste lockte die Dezember-Vorlesung in das AudiMax der Hochschule Harz nach Wernigerode. Der Jurist Simon Gerdemann berichtete unterhaltsam und fachkundig über das Thema „Corporate Whistleblowing – Legalitätskontrolle in Unternehmen zwischen kollektiver Ethikoffensive und unkollegialem Denunziantentum“. Whistleblower sind spätestens seit Edward Snowden auch im deutschen Sprachraum bekannt. Hinter dem englischen Begriff verbirgt sich ein Insider, der Unternehmensinterna oder Staatsgeheimnisse an die Öffentlichkeit bringt. „Ich werde Ihnen heute nicht sagen können, was Sie von Whistleblowern zu halten haben, das müssen Sie selbst entscheiden“, betonte der 29-Jährige gleich zu Beginn.
Gerdemann, Doktorand an der Georg-August-Universität Göttingen, sorgte bei der Begriffserläuterung für Aha-Erlebnisse: „Die englischen Polizisten, ‚Bobbys‘ genannt, blasen in ihre Trillerpfeife, ‚to blow a whistle‘ heißt das. Eine Übersetzungsmöglichkeit lautet ‚jemanden verpfeifen‘. Während der Whistleblower im anglo-amerikanischen Raum also positiv besetzt ist, sind wir hierzulande allein sprachlich schon im Bereich des Denunziantentums“. Damit war der internationale Rechtsexperte, der seinen Master of Laws an der renommierten University of California, Berkeley, erworben hat, auch schon bei seinem Kernthema: Den Unterschieden zwischen Deutschland und den USA, wo die Ursprünge des Whistleblowings liegen.
Während der Sezessionskriege in den 1860er Jahren grassierte Betrug gegenüber der Regierung; statt Munition wurden leere Pulverfässer und statt stolzer Kriegspferde lahme Esel verkauft. Der „False Claims Act“ förderte daher Whistleblowing finanziell: Wer einen Betrug meldete, hatte Anspruch auf 50 Prozent des Strafschadensersatzes und der jeweiligen Geldbuße. Dies war Vorbild für weitere Programme, bspw. sogenannte „Whistleblower Offices“. Diese zentralen Anlaufstellen sorgen für den Schutz des „Geheimnisverräters“; eine Notwendigkeit bei vergleichsweise lockerem Kündigungsschutz.
In Deutschland hingegen sei Whistleblowing ein expliziter Kündigungsanlass aufgrund der Loyalitätspflicht. Als kulturelle Erklärungsansätze eignen sich u.a. die Erfahrungen aus totalitären Regimen. Erst 2001 begann ein Wandel in der Rechtsprechung. Exemplarisch ist der sogenannte „Sozialarbeiterfall“; dieser wurde jedoch gegen einen Arbeitnehmer und Whistleblower entschieden. „Dieser hat nicht intern auf höherer Ebene Beschwerde eingelegt und – noch wichtiger – seine Motive erschienen fragwürdig. Es lag nahe, dass er seinem Chef ‚eins auswischen‘ wollte“, so der Dozent. Während es in den USA nicht um die Motive sondern nur um die Inhalte geht, ist dies in Deutschland anders: Strafrechtlich Relevantes kann gemeldet werden, aber die Gründe dafür dürfen nicht „sachfremd“ sein. Auch ist es schwierig einen Adressaten zu finden, da es keine „Whistleblower Offices“ gibt. Simon Gerdemann hatte weitere spannende Fälle auf Lager. „Der Berliner Internetversandhändler Zalando schrieb eine Kopfprämie aus für Mitarbeiter, welche die Minderleistung von Kollegen melden. Das wurde innerhalb kurzer Zeit wieder abgeschafft, weil die Belegschaft auf die Barrikaden ging“, so der Wissenschaftler.
Wie er versprochen hatte, gab es auch abschließend keine Antworten, nur viele Fragen: „Brauchen wir in Deutschland ein Whistleblower-Gesetz? Ja, denn diese Menschen brauchen Rechtssicherheit. Brauchen wir Reformen? Vielleicht. Aber wie aussichtsreich ist das bei der derzeitigen Macht der Konzerne? Ist ein kultureller Wandel notwendig? Werden Whistleblower als Ratten und Denunzianten gesehen? Sollte die Gesellschaft anders denken – wir sind skeptischer als die USA – und ist das gut so? Denken Sie an die Kollegialität als wichtiges gesellschaftliches Konstrukt und an das Unbehagen bei Geldflüssen für Whistleblowing“, betonte der Promovend. Das letzte Bild der Präsentation zeigte Edward Snowden; Simon Gerdemann entließ seine Hörer mit einem letzten Denkanstoß: „Die US-amerikanische Regierung hat ihn übrigens nie einen Whistleblower genannt, dort gilt er als Verräter.“
Der nächste Vortrag der GenerationenHochschule findet am Dienstag, dem 12. Januar 2016, von 17 bis 19 Uhr, im AudiMax („Papierfabrik“, Haus 9) auf dem Wernigeröder Campus statt. Der Theologe und Pädagoge Peter Lehmann spricht über das Thema „Stolpersteine – Spuren jüdischen Lebens“ und stellt ausgewählte Schicksale der während des zweiten Weltkrieges ermordeten und vertriebenen Wernigeröder Juden vor. Die Teilnahme ist wie immer kostenfrei. Die Anmeldung erfolgt unter www.generationenhochschule.de.
Weitere Informationen:
http://www.generationenhochschule.de
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