Prothesen erzählen Geschichten. Zwei Publikationen schließen ein dreijähriges Forschungsprojekt ab
Das Deutsche Hygiene-Museums verfügt heute über einen Bestand von mehr als 700 Prothesen, Implantaten und anderen Körperersatzteilen, die vorwiegend aus dem 20. und 21. Jahrhundert stammen. Diese Sammlungsobjekte erlauben es, historische Alltagserfahrungen von Leid und Versehrtheit zu rekonstruieren und materiell zu bewahren. Sie geben Aufschluss darüber, welchen Gebrauch Menschen von diesen Prothesen gemacht und wie diese umgekehrt ihre Nutzer verändert haben. Gleichzeitig ermöglicht es dieser Bestand, die Wandlungen der kulturellen, sozialen und politischen Menschenbilder zu untersuchen und aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet der technischen Körpermodifikation historisch einzuordnen.
Diese weitgehend unbekannte Sammlungsabteilung des Deutschen Hygiene-Museums war der Ausgangspunkt eines dreijährigen interdisziplinären Forschungsvorhabens. Unter dem Dach des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojektes "Anthropofakte. Schnittstelle Mensch. Kompensation, Extension und Optimierung durch Artefakte", in dem das Deutsche Hygiene-Museum mit der Technischen Universität Berlin kooperiert hat, wurde dieser Objektbestand grundlegend analysiert. Im Zentrum der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Körperersatzteilen standen die sich wandelnden sozialen, politischen und kulturellen Körperbilder und die Veränderungen des Körpers durch technische Eingriffe und Erweiterungen.
Zum Abschluss des Dresdner Teilprojektes sind jetzt zwei Publikationen erschienen; Journalisten können Rezensionsexemplare unter presse@dhmd.de bestellen.
Parahuman
Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik
Herausgegeben von Karin Harrasser und Susanne Roeßiger
Band 12 der Reihe „Schriften des Deutschen Hygiene-Museums“
Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2016
Körpergeschichten
Eine Sammlung zur Prothetik
Herausgegeben von Susanne Roeßiger und Annika Wellmann-Stühring
Band 5 der Reihe „Sammlungsschwerpunkte“
Sandstein Verlag, Dresden 2016
DIE PROTHESENSAMMLUNG DES DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUMS
Im Unterschied zu einer klassischen medizin- oder technikhistorischen Schwerpunktsetzung werden Prothesen im DHMD gesammelt, um historische Alltagserfahrungen von Leid und Versehrtheit bewahren und rekonstruieren zu können. Anhand dieser Hilfsmittel können Fragen nach den Gebrauchsweisen und den Beziehungen der Menschen zu diesen Objekten gestellt werden: Was macht der Mensch mit der Prothese? Aber auch: Was macht die Prothese mit dem Menschen? Der Sammlungsbestand des DHMD erlaubt es, einerseits das Wissen über die Geschichte der Prothetik anhand von materiellen Beispielen zu präzisieren und gleichzeitig aktuelle Entwicklung auf dem Gebiet der technischen Körpermodifikation historisch einzuordnen. Die Ergebnisse der im Rahmen des Projektes "Anthropofakte" erfolgten Digitalisierung der Sammlungsobjekte sind ab September unter www.dhmd.de/emuseum verfügbar.
Der Band "Parahuman. Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik" versammelt die Beiträge der gleichnamigen Tagung, mit der das Verbundprojekt am 17. und 18. März 2016 im Deutschen Hygiene-Museum abgeschlossen wurde. Er versteht sich als Beitrag zu den Debatten um die schon heute bestehenden und sich abzeichnenden Möglichkeiten, den Körper mit Hilfe von Technologien zu ergänzen, aber auch zu verändern. Denn anders als viele der historischen Prothesen dienen moderne Hightech-Produkte nicht nur der Wiederherstellung fehlender Körperfunktionen, sondern zielen inzwischen darauf ab, körperliche Eigenschaften und Fähigkeiten gezielt zu erweitern. Anhand unterschiedlicher Anwendungsfelder wird diskutiert, ob sich in diesen „parahumanen“ Szenarien die Überwindung der menschlichen Endlichkeit abzeichnet oder aber ein alternatives Bild von einem guten Leben mit Technik entworfen wird.
Der Band "Körpergeschichten" dokumentiert zentrale Objekte des historischen Prothesenbestands des Deutschen Hygiene-Museums. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Verhältnis von Objekt und Nutzer, das es erlaubt, von individuellem Leid, aber auch von Stärke, Kreativität und zurückgewonnener Normalität zu berichten. Diese Geschichten fügen sich zu einer Erzählung, in der es nicht allein um die Kompensation von körperlichen Defiziten geht, sondern auch um eine selbstbewusste Aneignung von technischen Körpererweiterungen. So werden gängige Vorstellungen über ein Leben mit Körperersatzteilen relativiert, auch wenn in dieser Perspektive die bestehenden gesellschaftlichen Hindernisse und das individuelle Leid nicht verschwiegen werden. Der Band zeigt eindrücklich, wie sich mit Museumobjekten Körpergeschichte schreiben lässt.
NEUES FORSCHUNGSPROJEKT AM DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUM
Ein neues, breit angelegtes Forschungsvorhaben wird sich ab Ende 2016 den Gläsernen Figuren widmen, die seit 1928 am Deutschen Hygiene-Museum produziert wurden. Das interdisziplinäre Projekt wird sich über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren mit der Rezeptionsgeschichte der Gläsernen Figuren beschäftigen, vor allem aber deren Produktionstechnik und Materialität erforschen und damit Grundlagen dafür liefern, wie diese und andere kulturhistorisch bedeutsame Objekte aus Kunststoff erhalten und restauriert werden können. Das Projekt "Gläserne Figuren – Ausstellungsikonen des 20. Jahrhunderts. Ein interdisziplinäres Forschungskolleg zur langfristigen Bewahrung von Objekten aus Kunststoff" wird von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderlinie „Forschung in Museen“ mit rund 480.000 € gefördert. Kooperations-partner des Deutschen Hygiene-Museums sind u. a. die Hochschule für Bildende Künste Dresden sowie die Technische Hochschule Köln.
Weitere Informationen:
http://www.dhmd.de/sammlung