Neues Gen für erbliche Muskelschwäche entdeckt
Ein deutsch-britisches Wissenschaftlerteam hat ein neues Gen identifiziert, das für eine Muskelerkrankung (kongenitale Muskeldystrophie) verantwortlich gemacht wird. Die Ergebnisse ihrer Studie stellen Dr. Andreas Roos und seine Kollegen vom ISAS, vom John Walton Muscular Dystrophy Research Centre in Newcastle und vom Friedrich-Baur-Institut in München derzeit online im „American Journal for Human Genetics“ vor.
Kongenitale Muskeldystrophien (congenital musclular dystrophies, CMD) sind erbliche Muskelerkrankungen, die sich schon von Geburt an durch Muskelschwäche und verzögerte motorische Entwicklung äußern. Aktuell sind mehr als 30 verschiedene Formen von CMD bekannt; aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass etwa eines von 20.000 Neugeborenen betroffen ist, so dass CMD zu den eher seltenen Erkrankungen zählen. Je nach Ausprägung leiden die Betroffenen jedoch unter Symptomen wie Schluckstörungen, Atemproblemen oder verkrümmten Gelenken. Neben den Muskeln sind manchmal auch die Augen oder das Gehirn betroffen: Die Patienten entwickeln schon in jungen Jahren grauen Star oder haben eine leichte geistige Behinderung.
In ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftler 64 Patienten, bei denen ursprünglich Verdacht auf eine andere Muskelerkrankung namens Marinesco-Sjögren-Syndrom bestand. Der Verdacht konnte jedoch nicht bestätigt werden; stattdessen fand man bei den Patienten auffällig häufig Mutationen in einem Gen namens INPP5K, das die Bauanleitung für eine gleichnamige Phosphatase darstellt. Dieses Enzym spielt eine wichtige Rolle im Phosphoinositid-Metabolismus, der wiederum so wichtig für die Zell- und Organfunktion ist, dass Störungen in diesem Kreislauf bereits mit zahlreichen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden – darunter auch mit mehreren erblichen neurologischen und neuromuskulären Erkrankungen. CMD gehörten bislang zwar nicht dazu; allerdings können auch nur in 25 bis 50 Prozent aller CMD-Fälle die schuldigen Mutationen identifiziert werden. „Viele der Gene, die CMD verursachen, sind wahrscheinlich noch gar nicht bekannt“, erklärt Dr. Andreas Roos, der am ISAS die Projektgruppe Tissue Omics leitet. „Wir glauben, dass wir mit INPP5K nun ein Gen identifiziert haben, das eine eigene Unterform von CMD verursacht.“
Für diese Schlussfolgerung hat das Forscherteam zahlreiche Belege zusammengetragen: Sie untersuchten nicht nur die 64 Patienten, die Andreas Roos im Rahmen seiner früheren Studien gefunden hatte, sondern testeten ihre Hypothesen auch in Versuchen mit Modellorganismen wie Zebrafischen. Am ISAS wurden zudem die proteinbasierten Untersuchungen durchgeführt, die die genetischen Analysen ergänzen und helfen, den genauen Krankheitsmechanismus aufzuklären. Insgesamt, so schließen die Forscher, liefere ihre Studie zwingende Beweise für eine Beteiligung von INPP5K an der Entstehung von kongenitalen Muskeldystrophien.
Studie:
Wiessner et al., Mutations in INPP5K, Encoding a Phosphoinositide 5-Phosphatase, Cause Congenital
Muscular Dystrophy..., The American Journal of Human Genetics (2017), http://dx.doi.org/10.1016/j.ajhg.2017.01.024
Zusätzliche Informationen:
Über das ISAS:
Das Leibniz-Institut für Analytische Wissenschaften – ISAS – e.V. treibt die Entwicklung analytischer Technologien als Baustein des wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts voran. Durch die Kombination unseres Fachwissens aus Chemie, Biologie, Physik und Informatik machen wir messbar, was heute noch nicht gemessen werden kann. Mit unseren Innovationen möchten wir die Prävention und Frühdiagnose von Krankheiten verbessern und schnellere und präzisere Therapien ermöglichen.
Das Institut wurde vor mehr als 60 Jahren in Dortmund gegründet und hat etwa 160 Mitarbeiter an zwei Dortmunder Standorten sowie einem Standort in Berlin-Adlershof.
Weitere Informationen unter http://www.isas.de.
Über das John Walton Muscular Dystrophy Research Centre:
Das John Walton Muscular Dystrophy Research Centre gehört zum Institute of Genetic Medicine (Newcastle University) und ist ein eigenständiges Zentrum mit mehr als 100 Mitarbeitern. Diese beschäftigen sich mit den verschiedenen Aspekten von Muskelerkrankungen wie Diagnosestellung (auch auf molekularer Ebene), Durchführung von klinischen Studien und physiotherapeutischer Anwendung bei Patienten mit diagnostizierten Muskelleiden. Zudem ist das Centre stark in der Erforschung der molekularen Grundlagen von Muskelerkrankungen involviert. Dazu zählen die Identifikation neuer Gene sowie der zugrunde liegenden Pathomechanismen, die dann wieder in therapeutische Interventionskonzepte umgesetzt werden können.
Weitere Informationen unter http://newcastle-muscle.org/
Über die Leibniz-Gemeinschaft:
Das ISAS ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, die 91 selbständige Forschungseinrichtungen verbindet. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen u.a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 18.600 Personen, darunter 9.500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,7 Milliarden Euro.
Weitere Informationen unter http://www.leibniz-gemeinschaft.de.
Über die Wissenschaftsstadt Dortmund:
Wissenschaft und Forschung sind die neuen Rohstoffe im Dortmund des 21. Jahrhunderts. Mit sechs Hochschulen und 19 international tätigen außeruniversitären Forschungseinrichtungen verfügt Dortmund über eine breit aufgestellte Wissenschaftslandschaft, die überdurchschnittlich wächst. Über 46.000 Studierende, rund 10.500 Beschäftigte und Gesamtausgaben in Höhe von 467 Millionen Euro (2,53 Prozent der gesamten Dortmunder Wirtschaftsleistung) machen den Wissenschaftsstandort Dortmund zu einem der größten in Deutschland.
Verantwortlich für den Text: Tinka Wolf, Leibniz-Institut für Analytische Wissenschaften – ISAS – e.V. Der Abdruck der Pressemitteilung ist kostenfrei unter Nennung der Quelle. Über ein Belegexemplar würden wir uns freuen.