Wahlprogramme: Kernproblem der EU bleibt ungelöst
In den Wahlprogrammen der Parteien fehlt es an Ideen für ein starkes und geeintes Europa. Fast alle koalitionsrelevanten Parteien setzen darauf, der EU weitere Kompetenzen zu übertragen. Es ist aber zweifelhaft, dass darüber in der EU 27 ein Konsens hergestellt werden kann. Die Parteien nehmen unter diesen Bedingungen mehr oder weniger explizit ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten in Kauf, um in wichtigen Bereichen wie einer gemeinsamen Einwanderungspolitik, einer europäischen Armee oder einer Sozialunion voranzukommen. Das geht aus einer aktuellen IfW-Analyse zur Bundestagswahl hervor. Die Frage, welche Kernkompetenzen die EU eigentlich haben sollte, wird dabei nicht beantwortet.
Keine der koalitionsrelevanten Parteien hat eine überzeugende Antwort auf die europäische Identitätskrise. Zwar ist und bleibt der europäische Integrationsprozess für die CDU/CSU, SPD, Die Grünen und die FDP ein Motor für Frieden, Demokratie und Wohlstand und soll weiter vertieft werden – so steht es in den aktuellen Wahlprogrammen. Ebenfalls gemeinsam ist den Programmen das Ziel, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU – wenn auch mit unterschiedlichen Ausprägungen – weiter zu erweitern. Allerdings fehlen Ideen und Visionen in den Programmen, mit denen ein starkes und vereintes Europa auch Realität werden könnte. Dies geht aus einer aktuellen Analyse zur Bundestagswahl von Jürgen Stehn, Leiter Wirtschaftspolitische Koordination, für die Schriftenreihe IfW-Fokus hervor.
„Die Standardantwort ‚Vertiefen und Erweitern‘ kann die gegenwärtige Sinnkrise der EU nicht lösen.“, sagte Stehn. „Die Zweifel am Sinn und Zweck des europäischen Integrationsprozesses sind ja gerade daraus entstanden, dass viele Menschen zunehmend den Eindruck gewonnen haben, ihre alltäglichen Probleme und Besorgnisse würden von der EU-Politik nicht wahrgenommen werden. Jetzt wieder einmal auf eine Vertiefung oder Erweiterung zu setzen, würde diesen Eindruck noch verstärken.“
„Die Süderweiterung in den siebziger Jahren, die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes in den achtziger und neunziger Jahren, die Osterweiterung, die Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und das Schengen-Abkommen in den 2000er Jahren waren stets auch eine Reaktion auf eine aufkommende ‚Europamüdigkeit‘.“
Europa der zwei Geschwindigkeiten
Aktuelle Beispiele aus den Wahlprogrammen, bei denen sich die Parteien weitgehend einig sind, seien die Pläne für eine EU-Erweiterung Richtung Balkan, die weiteren Verhandlungen mit der Türkei – auch wenn hier im Wahlkampf Abstand genommen wurde – oder die Verankerung eines Europäischen Währungsfonds. Insbesondere beim Thema Vertiefung setzte jede der Parteien eigene Schwerpunkte. Die CDU/CSU möchte vorrangig das gemeinsame Asylsystem der EU vollenden, die FDP fordert den Aufbau einer Europäischen Armee.
Die SPD möchte ein breit angelegtes gemeinsames EU-Investitionsprogramm auflegen, eine Europäische Sozialunion initiieren, eine Wirtschaftsregierung für den Euro-Raum und die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung und des Steuervollzugs in der EU voranbringen. Die Grünen wollen mittelständische Unternehmen in der EU finanziell beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit unterstützen. Darüber hinaus streben Die Grünen einen Pakt für nachhaltige Investitionen in der EU an, wollen Mindeststandards in der sozialen Sicherung und auf dem Arbeitsmarkt festlegen und eine europäische Arbeitslosenversicherung einführen.
Alle genannten Parteien befürworten mehr oder weniger deutlich ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. SPD und FDP sehen eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten als ein geeignetes Instrument zur Vertiefung des Integrationsprozesses an. Die Grünen schließen die Möglichkeit eines schnelleren Vorangehens einzelner EU-Länder nicht aus, lehnen aber ein Kerneuropa und eine Spal-tung der EU ab. Die Spitzenkandidatin der CDU/CSU hat in Interviews ebenfalls eine EU der verschie-denen Geschwindigkeiten befürwortet, im Wahlprogramm ihrer Partei fehlt allerdings eine Stellungnahme hierzu. „Eine Vielzahl der ‚Vertiefungswünsche‘ dürften in der EU der 27 keine Mehrheit finden, aber vielleicht in einem kleineren Kreis gleichgesinnter EU-Mitgliedsländer realisierbar sein“, sagte Stehn.
Fehlender Markenkern
Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten habe jedoch ein schwerwiegendes Konstruktionsproblem. Es sei ohne eine Festlegung von Kernkompetenzen der EU letztlich nicht funktionsfähig. „Ohne Kernkompetenzen, die für alle (Kern-)Mitgliedsstaaten gelten, verkomme die EU zu einem undefinierten Konglomerat von Staaten ohne Markenkern. Wenn nicht mehr deutlich wird, wofür die EU eigentlich steht, schwindet sehr schnell die Attraktivität, die sie trotz aller gegenwärtigen Probleme immer noch für die meisten Mitgliedsländer und nicht zuletzt auch für Investoren aus aller Welt ausstrahlt“, so Stehn.
In einer ausführlichen Analyse zum Zustand der Europäischen Union schlägt Stehn acht Kernkompetenzen für die EU vor, nämlich die Handels-, Kapital- und Niederlassungsfreiheit, die Fusions- und Beihilfenaufsicht sowie die Asyl-, Sicherheits- und Umweltpolitik. Die Verantwortung für die Personenfreizügigkeit sollte zurück in nationale Hände gelegt werden. Zur Finanzierung sollten die Mittel für Agrarsubventionen und weniger entwickelte Regionen gestrichen werden.
Weitere Informationen:
https://www.ifw-kiel.de/medien/fokus/2017/ifw-fokus-204 IfW-Fokus 204
https://www.ifw-kiel.de/wirtschaftspolitik/zentrum-wirtschaftspolitik/kiel-policy-brief/kpb-2017/kpb_106 Kiel Policy Brief 106
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