Ein großer Sprung nach vorn: UKM mit neuen Leitungsstrukturen für die Zukunft der Psychiatrie
Seit dem 1. März 2019 leitet Univ.-Prof. Bernhard Baune als neuer Direktor die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am UKM (Universitätsklinikum Münster). Baune, der aus Melbourne ans UKM zurückkehrt, wo er 2004/05 bereits Ober-arzt war, ist Spezialist für Translationale und Personalisierte Psychiatrie. Sein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Neuropsychiatrie. Weiter in der Klinikleitung aktiv bleibt auch Univ.-Prof. Volker Arolt.
Münster (ukm/aw).Gemeinsam mit Univ.-Prof. Udo Dannlowski und dem Inhaber einer neuen Heisenberg-Professur der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für Künstliche Intelligenz (KI), Prof. Tim Hahn, will das Team neue Wege beschreiten und sich als Standort eines Deutschen Zentrums der Gesundheitsforschung (DZG) bzw. für ein Zentrum für Psychische Gesundheit bewerben. Das soll in naher Zukunft vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Deutschland gefördert werden. Im Interview äußern sich Baune und Arolt zu den Perspektiven der Bewerbung auf ein DZG und der Zukunft der Psychiatrie am universitären Standort Münster:
Herr Prof. Baune, sie sind gerade erst zurück aus Melbourne und haben gleich große Pläne. Was könnten Sie perspektivisch mehr und besser, wenn Ihre Klinik Standort eines DZG bzw. Zentrums für Psychische Gesundheit würde?
Baune: Die Erweiterung der Klinik mit der Angliederung an ein DZG bzw. Zentrum für Psychische Gesundheit böte uns enormes Potential – für mich war das mit ein entscheidender Grund, diese Professur in Münster anzutreten. Aber auch vor dem Hintergrund, was von Herrn Prof. Arolt in den letzten Jahren hier geschaffen wurde, ist das ein nächster logischer Schritt. Wir haben vor, mehr in die ambulante Versorgung zu gehen. Wir werden bestimmte innovative Therapiemöglichkeiten anbieten und die Diagnostik modernisieren.
Herr Prof. Arolt, sie haben in den letzten 21 Jahren als Direktor der Klinik den Grundstock dafür gelegt. Was hat sich in dieser Zeit in der Klinik aber auch in der gesamten Disziplin bewegt?
Arolt: Als ich am 1. Mai 1998 anfing, gab es an der Klinik noch keine grundlagenorientierte Forschung, deswegen war es mein erklärtes Ziel, diesen Bereich zu stärken. Das zweite Ziel war, die klinische Versorgung für die speziellen Störungsbilder zu spezialisieren – insbesondere affektive Erkrankungen, psychotische Erkrankungen oder neurotische Störungen. Daran ausgerichtet haben wir Spezialsprechstunden und Ambulanzen eingerichtet. Und ich habe in den ersten Jahren so viel in die wissenschaftliche Forschung investiert, wie überhaupt nur möglich war, um dort besser zu werden.
Viele Dinge haben sich dann ziemlich rasant entwickelt, zum Beispiel zunächst die gute Zusammenarbeit mit anderen Instituten und Kliniken des UKM, speziell mit der klinischen Radiologie und der Neurophysiologie. Daraus hat sich ein enormer Forschungs-Impact entwickelt. Wir haben angefangen, die Patienten sorgfältig klinisch und zunehmend neurowissenschaftlich zu charakterisieren. Daraus resultierend haben wir heute sehr große Stichproben von Menschen mit depressiven Störungen, mit bipolaren Erkrankungen, Angsterkrankungen und zum Teil mit Psychosen. Diese Kohorten* sind sehr wertvoll und sind einer der Gründe, warum Prof. Tim Hahn hier ist, der seit diesem Monat eine Heisenberg-Stiftungsprofessur besetzt, die er mit seinen Arbeiten einwerben konnte. Er beschäftigt sich mit Maschinenlernen und Künstlicher Intelligenz und arbeitet mit unseren Stichproben.
Was könnte ihre Klinik für einen Standort eines DZG bzw. Zentrums für Psychische Gesundheit auszeichnen?
Arolt: Mit Blick auf die Antragsstellung haben wir zwei Stärken: Das eine sind unsere Patientenkohorten und das andere sind unsere Forschungsstrukturen. Gemeinsam aber können wir in Deutschland noch bessere Ergebnisse erzielen, wenn wir uns untereinander stärker vernetzen. Beispiele sind die USA oder gleich nebenan die Niederlande, wo die psychiatrischen und psychologischen Einrichtungen deutlich besser zusammenarbeiten. Wir wollen in ähnlicher Weise große Stichproben in einer Netzwerkstruktur generieren, die durch ein Deutsches Zentrum der Gesundheitsforschung entsteht.
Baune: Ich habe in Australien angefangen, ein solches weltweites Konsortium zur Genomik der Elektrokrampftherapie bei Depression zu leiten, das mittlerweile über vier Kontinente läuft. Auf europäischer Ebene leite ich ein Netzwerk der Pharmakogenomik bei neuropsychiatrischen Erkrankungen. Daher weiß ich, dass man sich vor Ort dafür von der Expertise her fit machen muss. Wir haben im Münsterland mit dem Forschungsnetzwerk Psychiatrie Münsterland, das ja schon vor etwa zehn Jahren gegründet wurde, bereits solche Strukturen im Verbund mit anderen Kliniken. Hier beteiligen sich die umliegenden Kliniken an unserer Patientendatensammlung. Wir haben unsere Leute auch in diese Kliniken geschickt, um die Patienten vor Ort zu untersuchen. Auf diese Weise hatten wir Zugriff auf etwa 1.000 Betten. Das sollte natürlich weitergeführt werden.
Wie ändert sich dann für den Patienten die psychiatrische Versorgung?
Baune: Wir werden in Zukunft eine größere Variation von ambulanten Angeboten und Therapien haben, etwa reichend von differenzierteren Psychotherapien, medikamentösen Therapien und vor allem auch Kombinationsbehandlungen aus beidem. Das heißt z.B., dass Patienten hochspezialisierte Therapien ambulant wahrnehmen und dabei zu Hause wohnen können. Wir werden künftig vermehrt versuchen, die Funktionsfähigkeit unserer Patienten im Alltag wiederherzustellen. So dass eine Integration am Arbeitsplatz oder in die vorhandenen sozialen Strukturen wirklich möglich ist. Da bieten Ambulanzen eine entscheidende Schnittstelle. Und wir wollen die Therapien stärker personalisieren, d.h. Therapien werden spezifisch für einzelne Patienten gemacht. Das bedeutet, dass man vorher sehr genau die Defizite und Stärken der Patienten feststellt, umreißt und dort ansetzt. Da geht es also nicht nur darum, was ein Patient fühlt, sondern um das, was er kann. Es geht darum, dass Patienten positive Emotionen wiedererkennen können und diese für sich nutzen. Das kann man trainieren. Das sind Dinge, die sich nicht einfach durch eine medikamentöse Therapie einstellen. Wir gehören zu den ganz wenigen Universitätskliniken, die ihren Schwerpunkt auf affektive Störungen gelegt haben: depressive und bipolare, aber auch Angststörungen und das Spektrum der emotionalen Regulationsstörungen wie zum Beispiel Borderline. Da es nur verhältnismäßig wenige solcher Kliniken gibt, rechnen wir uns für das Zentrum für Gesundheitsforschung gute Chancen aus. Aber man muss neben der Expertise auch schauen, welche Methoden wenden die Kliniken an und welche Ergebnisse können wir gemeinsam mit unseren Patienten erreichen? Das ist für uns die Nagelprobe: Ob ein Patient erkennbar profitiert.
Mit der geplanten Neuausrichtung will das UKM die einzelnen Bereiche der Psy-chiatrie zusammenführen und aus jetzt drei Kliniken ein Zentrum machen. Das betrifft die Psychiatrie, die Psychosomatik und die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sind das nicht drei verschiedene Disziplinen?
Arolt: In manchen Bereichen gibt es Überschneidungen. Zum Beispiel bei gerade Volljährigen. Da greifen die Psychiatrie und die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Sinne des Patienten schon heute ineinander. Und die aus der Kinder-und Jugendpsychiatrie kommende Perspektive der Persönlichkeitsentwicklung bereichert ja auch die Psychiatrie. Mit der Psychosomatik gibt es bereits heute viele Überschneidungen, wobei in diesem Gebiet die Bedeutung der Psychotherapie zu Recht stark betont wird. Die Überlappungen aber auch die Ergänzungen werden bei einer Zusammenführung der Konsildienste für die psychischen Probleme, an denen circa. 30 Prozent der körperlich Schwerkranken am UKM leiden, gut genutzt werden können. Wir wissen ja auch, dass Menschen mit chronischen körperlichen Erkrankungen – z. B. koronaren Herzerkrankungen, Diabetes, Schlaganfallfolgen – eine deutlich schlechtere Prognose haben, wenn zusätzlich auch noch eine psychische Erkrankung vorliegt.
Baune: Und man kann das noch einen Schritt weiterdenken und mal über die Psychologie reden, die ja komplett von uns abgetrennt ist. Ich glaube, es ist wichtig, psychische Erkrankungen als einen großen Komplex von Erkrankungen des menschlichen Gehirns in verschiedenen Ausprägungen zu sehen. Wir sollten auch die Überlappungen in der klinischen Psychologie und der Psychiatrie solidarisch nutzen.
Schauen wir uns einmal die Versorgungssituation an: Gibt es zu wenige Psycho-therapeuten in Deutschland?
Baune: Es gibt auch andere, die sagen, wir haben viel zu viele Therapeuten. Tatsächlich müssen wir die Therapien patienten-spezifischer und effektiver machen. Vermutlich ist die Anzahl der Therapeuten, die wir haben, nicht effizient genug eingesetzt.
Arolt: Wir sehen viele Patienten, die kommen und sagen: ‘Ich brauche Psychotherapie, ich muss meine Kindheit aufarbeiten ‘. Wo wir uns fragen: Geht es diesen Menschen wirklich um systematische, psychotherapeutische Hilfe oder eher darum, dass sie an die Hand genommen werden und sich durchs Leben geführt sehen wollen? Das mag bestimmten, besonders schwer psychisch kranken Menschen helfen, ist aber keine Psychotherapie. Wir brauchen Qualität in beiden Bereichen: sowohl in der berechtigten Nachfrage nach Therapie als auch im qualitativen Angebot geeigneter Therapien. Wenn man das anerkennt, sind wir hinsichtlich der psychotherapeutischen Versorgung besonders in städtisch bestimmten Gebieten nicht schlecht. Aber: In ländlichen Versorgungsgebieten und insbesondere im Osten Deutschlands ist die Lage tatsächlich schlecht.
Apropos ländlich: Es gibt ja auch immer mehr online-Angebote für Psychotherapie. Sehen Sie das kritisch?
Baune: Da wachsen die Angebote. Das ist sicher – in Grenzen – eine geeignete Form, der Ungleichverteilung von psychotherapeutischen Angeboten zu begegnen.
Arolt: Bezüglich der Online-Psychotherapie gibt es viele interessante Erkenntnisse, z.B. dass sie wirksam ist. Ich finde aber auch bemerkenswert, dass Online-Psychotherapie praktisch keine Hürden aufbaut. Sie müssen sich nicht erst irgendwo hinschicken lassen, sie müssen keine Angst oder Scham überwinden und nicht ewig warten. Sie können erste Versuche machen, mit ihrem Problem umzugehen. Es gibt da sehr differenzierte Programme sowohl ohne als auch mit Psychotherapeuten im Hintergrund. Ich will nicht sagen, dass das die traditionelle Psychotherapie ablösen soll, aber es ist eine Möglichkeit, selbst etwas zu tun, bevor man sich persönlicher in ausgebildete Hände begibt.
Wohin wird sich die Psychiatrie in den kommenden zehn Jahren entwickeln?
Arolt: Wir müssen die Sichtweise auf unsere Patienten ändern, indem wir mehr von dem ausgehen, was sie können, statt uns nur auf ihre Einschränkungen und Defizite zu fokussie-ren. Es gibt Situationen, wo Patienten gewisse Leidenszustände haben, aber doch auf einigen Gebieten gut leben und arbeiten können – und das wiederum wirkt positiv zurück. Diese Perspektive führt auch ein Stück weg vom traditionellen Denken in Symptomen, Syndromen und Diagnosen. Eine solche Sichtweise, die uns übrigens schon aus der Psychoanalyse bekannt ist, wird zunehmend auch durch neurobiologische Erkenntnisse nahegelegt. Wir sehen, dass ganz unterschiedliche Erkrankungen zum Teil auf ähnlichen genetischen Prädispositionen** basieren. Und wenn wir entschlüsseln können, was diese Prädispositionen machen, und hier therapeutisch ansetzen können, dann wird das ganze Gebiet einen Sprung nach vorne machen. Nur eine Institution bzw. Klinik mit einem breiten Spektrum, die eine Forschungskraft, geballtes Wissen und gut funktionierende Kooperationen hat, wird in der Lage sein, eine derartige Perspektive zu verwirklichen. Deswegen ist es so wichtig, Institutionen zu schaffen, die groß genug sind und integrativ genug arbeiten. Wir müssen unsere Disziplin nach vorne bewegen, eben weil so viele Menschen von psychischen Erkrankungen betroffen sind.
Baune: Wir sind gerade dabei, in ein Zeitalter hineinzuwachsen, wo wir durch neurowissenschaftliche Methodik in der Lage sein werden, die Therapien effektiver zu gestalten. Wir werden uns viel mehr an den individuellen Voraussetzungen eines jeden Patienten orientieren können. Während es in den letzten Jahrzehnten primär um die Interpretationen und Beschreibung durch den Psychiater ging, wird es wohl zukünftig mehr datenbasierte Entscheidungsfindung sein. Der Psychiater wird dadurch nicht überflüssig, aber mehr datenbasierte Assistenz bekommen. Das ist meine Faszination für die Zukunft und etwas, woran wir hier arbeiten wollen. Und da sind wir mit dem neuen Institut von Herrn Prof. Dannlowski und der Heisenberg-Professur von Prof. Tim Hahn personell perfekt aufgestellt.
*Kohorten = Patientendatenbanken
** Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten