Die Familie im Blick: Netzwerk für Kinder psychisch kranker Eltern
Etwa drei Millionen Kinder haben eine Mutter oder einen Vater mit einer psychischen Erkrankung. Rund zwei Drittel dieser Kinder sind gefährdet, selber eine psychische Störung zu entwickeln. Das Problem: Sie werden von der Erwachsenenpsychiatrie meist übersehen. Der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss hat nun 6,8 Mio. Euro bewilligt, um bundesweit die psychodynamische Versorgung dieser Kinder und Jugendlichen zu etablieren. Das Projekt ist international einzigartig. Ein Interview mit der Projektleiterin Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).
Frau Prof. Wiegand-Grefe, Sie erhalten eine stattliche Fördersumme vom Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss für Ihr Projekt CHIMPS-NET (Children of mentally ill parents). Was macht es so einzigartig?
Wir wollen ein bundesweites Netzwerk aufbauen, um auch die Kinder psychisch erkrankter Eltern zu unterstützen. Davon sind in Deutschland etwa drei Millionen Kinder betroffen. Sie haben ein sieben- bis achtfach erhöhtes Risiko, selber psychisch zu erkranken. Obwohl das seit rund fünfzehn Jahren bekannt ist, werden die Kinder in der Erwachsenenpsychiatrie oftmals übersehen. Wir haben eine psychodynamische Intervention entwickelt, die die ganze Familie im Blick hat.
Kurz zur Erklärung: Was sind psychodynamische Therapien?
Psychodynamische Verfahren umfassen zum einen die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und zum anderen die Psychoanalytische Psychotherapie, einschließlich die Psychoanalyse im engeren Sinne. Beide Richtungen basieren auf der ursprünglichen und weiterentwickelten Idee von Sigmund Freud, dass aktuelle psychische Probleme in der Lebensgeschichte entstanden und sich verfestigt haben.
Warum sind diese Verfahren besonders wertvoll für Kinder psychisch erkrankter Eltern?
Psychodynamische Therapien haben die Lebensgeschichte und frühkindlichen Beziehungserfahrungen im Fokus. Wenn eine Mutter zum Beispiel unter Depressionen leidet und nicht einfühlsam auf ihr Kind eingehen kann, lernt dieses Kind, dass es allein ist und sich selber helfen muss. Dieses Muster nimmt es auch in andere Beziehungen mit. Wir nehmen diese Beziehungsproblematik wahr und bearbeiten sie gemeinsam mit dem Kind und seinen Eltern. Wir lösen die frühkindlichen Erfahrungen auf, indem wir zum Beispiel Verständnis für die Hintergründe entwickeln und bei Bedarf auch konkrete weitergehende Hilfen bahnen. Wir konnten in mehreren Studien am UKE zeigen, dass psychodynamische Interventionen sehr wirksam sind und Kinder längerfristig vor möglichen psychischen Folgen schützen kann.
Wie sieht die Situation von Kindern psychisch erkrankter Eltern aus?
Die Kinder leben in einem Alltag, in dem sich die Eltern nicht immer adäquat um sie kümmern können. Depressionen, Suchterkrankungen oder Psychosen etwa schränken die Eltern phasenweise sehr ein. Sie haben dann mit sich selbst genug zu tun. Oftmals werden diese Kinder dann zu den Eltern ihrer Eltern und jüngeren Geschwister. Dieses Phänomen nennt man Parentifizierung. Dazu kommt, dass sie vielfach allein auf weiter Flur stehen, weil sie sich schämen, Nachbarn oder Bekannten von ihrer Situation zu erzählen.
Zu welchen psychischen Störungen kann die Notlage dieser Kinder führen?
In einem gewissen Maße kann die Situation der Kinder sogar ihre Fähigkeit unterstützen, im späteren Leben Verantwortung zu übernehmen und Probleme selbstständig anzugehen. Sie kann, wenn auch in geringem Ausmaß, damit ihre Resilienz unterstützen. Sehr viel häufiger jedoch – und das betrifft etwa zwei Drittel der betroffenen Kinder – führen dauerhafte Überforderung und Stress der Kinder zu einem instabilen Selbstwertgefühl, Rückzug, Ängsten, und eigenen Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen bis hin zum Suizid.
Wie arbeiten Sie mit den Kindern, um sie vor den gravierenden Folgen zu bewahren?
Wir sehen die ganze Familie. In zwei bis drei Elterngesprächen beleuchten wir die Situation der Erwachsenen sowie ihre Paarbeziehung. Danach widmen wir uns jedem Kind in einem eigenen Termin, bevor wir drei bis vier Gespräche mit der ganzen Familie führen. In den insgesamt etwa acht bis zehn Sitzungen, die sich über ein halbes Jahr erstrecken, ermitteln wir auch, an welcher Stelle die Familie Unterstützung von außen benötigt. Im Anschluss bieten wir im Rahmen von 14-tägigen Treffen von Kinder- und Jugendgruppen weitere Hilfe an. Auch zu einem späteren Zeitpunkt kann sich die Familie jederzeit wieder an uns wenden, was viele Familien auch gern in Anspruch nehmen.
Das Projekt ist in 15 Bundesländern angelegt. Woraus wird das bundesweite Netzwerk, das Sie etablieren wollen, bestehen?
Das Projekt umschließt 30 Partner, darunter 18 Erwachsenen- und Kinder- und Jugendpsychiatrische Kliniken, Evaluatoren und fünf große Krankenkassen wie die TK, Barmer, DAK, Gesundheit KKH und BKK Mobil Oil, mit denen wir die Finanzierung klären mit dem Ziel, diese auch später in die Regelversorgung zu übernehmen. In dem Projekt sind auch systemische, Gesprächs- und Verhaltenstherapeuten beteiligt, für die wir Schulungen in psychodynamischer Arbeit anbieten. Mit diesem Vorhaben liegen wir international ganz weit vorn.
Wie vielen Kindern können Sie schätzungsweise helfen?
In diesem zunächst auf drei Jahre angelegten Projekt können wir 1.000 Familien mit im Schnitt zwei bis drei Kindern ansprechen. Das heißt, wir können 2.000 bis 3.000 Kindern mit unserer psychodynamischen Intervention helfen. Mein großer Wunsch ist, dass unsere Arbeit Erfolg hat und wir damit eine langfristige Regelfinanzierung unseres Konzeptes erreichen. So ist unser langfristiger Plan.
Hinweis:
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe ist Psychoanalytikerin (DGPT) und Familientherapeutin und leitet die Forschungssektion Family Research and Psychotherapy (Familienforschung und Psychotherapie) in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf. Seit 2011 hat sie eine Professur für klinische Psychologie und Psychotherapie an der MSH Medical School Hamburg inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Entwicklung familienbasierter Interventionskonzepte, die Psychotherapieforschung und die Versorgungsforschung. Sie koordiniert derzeit u.a. zwei im Innovationsfond des GB-A geförderte Forschungsverbünde: Children affected by rare disease and their families (CARE-FAM-NET, Fördersumme rund 8 Mio. Euro) für Kinder mit seltenen Erkrankungen und deren Eltern und Geschwister sowie Children of mentally ill parents (CHIMPS-NET, Fördersumme rund 7 Mio. Euro) für Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern.