Paul-Martini-Symposium: Arzneimitteltherapie bei Menschen im Alter
„Medikamente tragen wesentlich dazu bei, dass viele Senioren heute 80, 90 Jahre oder sogar noch älter werden können; andererseits ist in kaum einer anderen Patientengruppe eine sichere und verträgliche Arzneimitteltherapie so schwierig zu meistern. Das aber muss unser Ziel sein.“ So umriss Prof. Dr. Ursula Müller-Werdan, Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin an der Charité und Ärztliche Leiterin des Evangelischen Geriatriezentrums Berlin, die Herausforderung der Arzneimitteltherapie bei Menschen im Alter beim gleichnamigen Symposium am 15. und 16. November 2019 in Berlin. Sie leitete es zusammen mit Prof. Dr. Stefan Endres, Klinikum der Universität München.
Veranstalter war die Paul-Martini-Stiftung (PMS) in Verbindung mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
„In Deutschland sind bereits mehr als viereinhalb Millionen Menschen 80 Jahre und älter, und die Zahl wird weiter steigen“, betonte Endres zu Beginn des Symposiums. „Daher wird es immer wichtiger, dass auch die Behandlung dieser Patienten Evidenz-basiert erfolgt.“
Der Alterungsprozess
In gute Therapieentscheidungen muss, das ist offensichtlich, auch das biologische Alter des Patienten oder der Patientin einfließen. Doch schon zur Frage, an welchen Biomarkern man dieses ablesen sollte, gibt es keine Einigkeit. Ein wichtiger Aspekt, so Müller-Werdan, sei der allmähliche Verlust der funktionellen Reserve vieler Organe – also ihrer Fähigkeit, nötigenfalls mehr als das Normalmaß zu leisten. In der Diskussion sei, ob man Altern besser als fortschreitenden Erkrankungsprozess versteht oder als Zusammenwirken eines an sich „physiologischen“ – also natürlichen – Alterungsprozesses mit dem Auftreten unterschiedlicher chronischer Krankheiten.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass keine Patientengruppe so heterogen ist wie die der Älteren, wie die Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaft schon 2015 in ihrer gemeinsamen Stellungnahme betonten. Denn wesentlichen Einfluss auf die körperliche und mentale Verfassung im Alter hat auch die individuelle Biographie. So hängt etwa das Osteoporose-Risiko alter Menschen stark von der Ernährung und körperlichen Betätigung in früheren Jahren ab.
In der Praxis spielt laut Prof. Dr. Michael Denkinger, Universität Ulm, weniger das Alter als vielmehr die Gebrechlichkeit („Frailty“) der Patienten eine entscheidende Rolle. Zu ihrer Bestimmung gebe es valide Instrumente, die in klinischen Studien zur Charakterisierung der Teilnehmenden konsequenter genutzt werden sollten. Heute werde die Gebrechlichkeit noch allzu oft nach Augenmaß bestimmt.
Zu den für die Arzneimitteltherapie wichtigen Veränderungen beim Älterwerden zählen u.a. das Absinken der Nierenleistung (bei zwei Dritteln der Bevölkerung) und eine Zunahme des Fettgewebes (das bei Hochbetagten wieder abnimmt). Diese Veränderungen können bei bestimmten Arzneimitteln Einfluss darauf haben, welche Wirkstoffkonzentrationen im Blut nach der Medikamenteneinnahme erreicht werden und wie schnell sie wieder sinken, wie Dr. Joachim Höchel von der Firma Bayer ausführte. Auch die Alterung der Leber kann sich auf diese Prozesse je nach Medikament unterschiedlich auswirken. Deshalb sollte in jedem Fall die Packungsbeilage vor der Behandlung älterer Patienten konsultiert werden.
Problem Multimedikation
Eine große Herausforderung besteht darin, dass die meisten Senioren gleich an mehreren Krankheiten leiden und dementsprechend viele Medikamente gleichzeitig erhalten; Ärzte sprechen von Multimedikation oder Polypharmazie. Laut Arzneiverordnungsreport nehmen Menschen über 65 Jahren hierzulande Medikamente durchschnittlich 4,6 verschiedene Medikamente ein. In den USA wurden bei 12 % dieser Altersgruppe sogar mehr als zehn Medikamente gezählt. Zu den jeweils mit diesen Mitteln verbundenen Nebenwirkungen kommen weitere, die sich erst aus der Kombination ergeben.
Leider können die Nebenwirkungen als eigenständige Erkrankungen fehlinterpretiert werden und zu weiteren Verordnungen führen. Prof. Dr. Hans Jürgen Heppner von der Universität Witten/Herdecke sprach in diesem Zusammenhang von einer Verschreibungskaskade. Ein gutes Beispiel sei Reizhusten als Nebenwirkung eines ACE-Hemmers gegen Bluthochdruck; oft werde mit Hustenmitteln statt einer Änderung der Blutdruckmedikation reagiert. In analoger Weise könnten Nebenwirkungen bestimmter Antidepressiva, Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel leicht als Zeichen von Demenz fehlgedeutet werden, erläuterte Prof. Dr. Agnes Flöel, Universitätsmedizin Greifswald. Schlaf- und Beruhigungsmittel könnten zudem Depression auslösen, ebenso beispielsweise einige Antibiotika.
Mitunter seien die Nebenwirkungen bei alten Menschen gravierend, berichtete Prof. Dr. Julia Stingl, Universitätsklinikum der RWTH Aachen. So gingen ganze 6,5 Prozent aller Krankenhausnotaufnahmen auf sie zurück; die dafür eingelieferten Patienten seien im Schnitt 75 Jahre alt. Sie äußerte die Erwartung, dass sich mit Evidenz aus digitalisierter Auswertung von Studien- und Versorgungsdaten künftig die Arzneimittelsicherheit verbessern lässt.
Laut Prof. Dr. Martin Wehling, Universität Heidelberg, trägt zur Multimedikation bei, dass Ärzte jede Krankheit leitliniengerecht behandeln wollen. Allerdings seien die meisten Leitlinien nicht für hochbetagte oder vielfach arzneimitteltherapierte Patienten erarbeitet worden. Das habe zunächst zu dem Ansatz geführt, an die Stelle von Leitlinien bestimmte Arzneimittel-Listen zu setzen. Einige wie die amerikanische Beers- oder die deutsche PRISCUS-Liste konzentrierten sich auf Medikamente, die bei alten Patienten vermieden oder ersetzt werden sollten. Ansätze wie das START/STOPP-System oder die von ihm entwickelte FORTA-Liste berücksichtigten darüber hinaus auch individuelle Patientenbedürfnisse und wiesen Ärzte auf zusätzliche Maßnahmen zur Therapieoptimierung hin. Die Wirksamkeit beider Tools für Therapieverbesserungen – etwa zur Reduktion von Nebenwirkungen – sei mittlerweile durch Studien bestätigt.
Prof. Dr. Petra A. Thürmann, Universität Witten/Herdecke, empfahl, bei Patienten unter Polypharmazie wiederholt zu überprüfen, ob jede der Krankheiten des Patienten wirklich umfänglich weiter behandelt werden sollte. Das Deprescribing, also das gezielte Absetzen von Medikationen, erfordere aber ein geordnetes Vorgehen. In der Kommunikation mit dem Patienten und seinen Angehörigen müsse die Befürchtung ausgeräumt werden, der Patient werde nun schlechter behandelt. Mittlerweile existierten erste Studien-Evidenzen und auch erste Leitlinien zum Deprescribing, beispielsweise für orale Antidiabetika.
Problem Adhärenz
Schon jüngere Menschen haben oft Schwierigkeiten mit der Adhärenz, also dem Einhalten eines vorgegebenen Therapieschemas. Bei alten Menschen weichen 40 bis 80 % davon ab. Auf die Ursachen ging Prof. Dr. Christian Albus von der Uniklinik Köln ein. Risikofaktoren für Non-Adhärenz seien ein kompliziertes Therapieschema, geringes Therapieverständnis, Erleben von (oder Angst vor) Nebenwirkungen, Depression, wenig Unterstützung durch Angehörige und Bekannte sowie niedriges Bildungsniveau. Speziell bei Älteren und Hochbetagten komme noch hinzu: männliches Geschlecht, Multimorbidität, Gebrech-lichkeit, eingeschränktes Sehen/Hören/Tasten sowie kognitive Einschränkungen. Adhärenz scheitere auch oft daran, dass Patienten die Anweisungen nicht verstehen, nicht behalten oder nicht umsetzen können. Umso wichtiger sei es, die Patienten nachhaltig zu motivieren und mündliche durch schriftliche Informationen zu ergänzen.
Spezielle Therapie- und Präventionsgebiete
Weitere Vorträge des Symposiums behandelten einzelne Therapiegebiete der geriatrischen Medizin wie Osteoporose, Muskelschwund, Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Schmerzen und Altersdepression. Auch die Möglichkeiten der Krankheitsprävention mit Impfungen im Alter wurden vorgestellt.
Verbesserungsbedarf
Beim Symposium wurde auch vorgestellt, welche Verbesserungen die Leopoldina, die deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaft schon 2015 empfohlen haben – in ihrer Stellungnahme „Medizinische Versorgung im Alter – Welche Evidenz brauchen wir?“.
Dringend zu optimieren seien demnach die ärztliche Ausbildung und das Informationsmanagement zwischen verschiedenen Ärzten, die den gleichen alten Patienten betreuen. Sonst komme es beispielsweise weiter zu Versorgungsbrüchen, wenn ein Patient aus der stationären in die ambulante Betreuung zurückwechselt.
Vor allem aber solle die Therapie von Senioren künftig besser durch Studien abgesichert werden, an denen genügend Patienten über 65 und über 80 Jahren mitgewirkt haben. Neben herkömmlichen Zielkriterien wie Heilung, Linderung und Überleben sollten bei Senioren weitere abgeprüft werden; etwa in welchem Maße ein Medikament die Aktivitäten des täglichen Lebens und Partizipation unterstützt. Die Autoren waren sich dabei der methodischen Schwierigkeiten, die die Durchführung solcher Studien mit sich bringt, durchaus bewusst.
Viele alte Menschen stünden einer Studienteilnahme grundsätzlich positiv gegenüber, kommentierte Frau Professor Thürmann beim Symposium. Sie wollten dabei aber ihre Möglichkeiten und Präferenzen berücksichtigt sehen.
Die Paul-Martini-Stiftung
Die gemeinnützige Paul-Martini-Stiftung, Berlin, fördert die Arzneimittelforschung sowie die Forschung über Arzneimitteltherapie und intensiviert den wissenschaftlichen Dialog zwischen medizinischen Wissenschaftlern in Universitäten, Krankenhäusern, der forschenden Pharmaindustrie, anderen Forschungseinrichtungen und Vertretern der Gesundheitspolitik und der Behörden. Träger der Stiftung ist der vfa, Berlin, der als Verband derzeit 45 forschende Pharma-Unternehmen vertritt.
Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina
Als Nationale Akademie der Wissenschaften leistet die Leopoldina unabhängige wissenschaftsbasierte Politikberatung zu gesellschaftlich relevanten Fragen. Dazu erarbeitet die Akademie Stellungnahmen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse. Zudem vertritt sie die deutsche Wissenschaft in internationalen Gremien, unter anderem bei der wissenschaftsbasierten Beratung der jährlichen G7-Gipfel. Mit ihren rund 1.600 Mitgliedern aus mehr als 30 Ländern vereinigt sie Expertise aus nahezu allen Wissenschaftsbereichen. Die Leopoldina wurde 1652 gegründet und 2008 zur Nationalen Akademie der Wissenschaften Deutschlands ernannt.
Weitere Informationen:
https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/issue/10.1055/s-009-44771