Kunst und künstliche Neurone - Hirnforscher stellen die Ergebnisse ihrer Forschung in der Kunsthalle aus
Am ZKM oder am Centre Pompidou auszustellen – das ist für einen Künstler etwa so, wie es für einen Wissenschaftler ist, in Nature oder Science zu veröffentlichen. Als Forscher seine Arbeit an einem der renommierten Museen zu zeigen, ist dagegen reichlich ungewöhnlich. Die ESI-Wissenschaftler Hermann Cuntz und Marvin Weigand tun es trotzdem. Am 26. Februar hat die Ausstellung „Neurons – simulated intelligence“ am Centre Pompidou in Paris eröffnet, unter den Kunstwerken ist auch eine Installation der beiden Hirnforscher. Im Interview erzählen die beiden warum Kunst und Wissenschaft nicht immer so weit voneinander entfernt sind wie man denkt und wieviel Foreschung in ihrer Kunst steckt.
Die Ausstellung am Centre Pompidou heißt „Neurons – simulated intelligence“ und soll so etwas wie ein Streifzug durch die Geschichte der künstlichen Intelligenz sein, und zwar aus einer künstlerischen Perspektive. Darunter sind aber auch ziemlich biologische Ausstellungsstücke – ein Gehirn in Formaldehyd zum Beispiel. Was erwartet einen, wenn man sich euer Stück ansieht?
Marvin Weigand: Im Prinzip die kortikalen Neurone, die von Hermanns Modell moduliert worden sind. Wenn der Besucher die VR-Brille aufsetzt, fliegt er quasi zwischen 150 Neuronen durch. Durch Bewegung des Kopfes kann man die Flugrichtung steuern. Gelegentlich feuert ein Neuron ein Aktionspotential – dann blitzt es auf. Das Ganze ist begleitet von einer ziemlich sphärischen Musik, die kapselt den Betrachter noch zusätzlich ab und vervollständigt dieses immersive Erlebnis, das man mit Virtueller Realität gerne erreichen möchte.
Ist es ein komisches Gefühl, als Wissenschaftler zu einer Kunstaustellung beizutragen? Denkt ihr, eure Arbeit hat tatsächlich einen künstlerischen Wert?
Hermann Cuntz: Ich denke, wenn wir es jetzt zum ZKM und zum Centre Pompidou geschafft haben, dann ist das Kunst. Das heißt, die Wissenschaft, die wir machen, gehört zur Kunst. Natürlich gibt es Künstler, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben, aber wir sind da offensichtlich an einer Grenze oder eher einem Übergang zwischen Disziplinen. Kunst oder Wissenschaft, das kann man nicht mehr wirklich direkt unterscheiden.
ESI News: Auch wenn ihr ausstellt und damit irgendwie auch Künstler seid, seid ihr ja eigentlich Wissenschaftler und macht Bilder und Videos als Teil eurer Forschung – welche wissenschaftliche Erkenntnis kann man denn mit euren künstlichen Neuronen gewinnen?
Marvin Weigand: Man kann nicht so direkt sagen: Das ist unsere Wissenschaft, die wir ausstellen. Die Visualisierung – diese künstlichen Neurone, die aussehen wie echte biologische Präparate – ist das Ergebnis von dem, was wir eigentlich erforschen. Uns interessieren die allgemeinen Regeln der Architektur des Nervensystems. Wenn wir glauben, wir haben eine mögliche Regel entdeckt, etwa wie Neurone ihre Dendriten wachsen lassen, dann stecken wir diese Regel in ein Modell, das vorhersagt: Wie würde denn ein Dendrit aussehen, der nach diesen Regeln wächst. Und je realistischer der künstliche Dendrit später aussieht, desto besser haben wir verstanden, welche allgemeine Regel dahinter steckt.
Hermann Cuntz: Die Pyramidenzellen, die wir im Centre Pompidou ausstellen, kommen aus einem Fachartikel, den ich vor ein paar Jahren publiziert habe. Darin habe ich Dendriten nicht nur von Pyramidenzellen, sondern von allen möglichen Neuronen aus vielen verschiedenen Spezies angeschaut. Das Paper heißt "One Rule to Grow Them All" und wir zeigen darin, dass eine Grundregel für das Wachstum von Dendriten ist, die Kabellänge möglichst gering und die Signalübertagung dementsprechend möglichst schnell zu halten. Also wenn man weiß, wo die anderen Zellen sind, von denen dieser Dendrit seine Eingänge holen muss, dann kann man mit unserem Modell ausrechnen, wie der optimale Dendrit aussehen müsste. Und dieselben Regeln kann man über verschiedene Spezies, über verschiedene Zelltypen anwenden. Und das funktioniert in allen Fällen, die wir ausprobiert haben.
Und eine der schönen Sachen an diesem Modell ist ja auch, dass es schon ganz von Anfang an den Turing-Test besteht insofern, dass man diese Zellen – die Visualisierung der Zelle – einem Experten geben kann und der kann nicht mehr unterscheiden: Ist das eine echte Zelle oder ist das eine künstliche Zelle. Tatsächlich ist es einmal passiert, dass bei uns am Institut ein Kollege einen Vortrag gehalten hat und in der Einleitung meinte: Natürlich wird es nie möglich sein, in einem Computermodell diese schöne Vielfalt von echten Nervenzellen zu reproduzieren. Und dann hat er mein Bild gezeigt von künstlich erstellten Zellen. Das ist für uns natürlich eine tolle Bestätigung dafür, dass wir etwas richtig gemacht haben. Natürlich reicht das als belastbare Evidenz nicht aus, aber es ist ein Hinweis.
Die Ausstellung „Neurons – simulated intelligence“ am Centre Pompidou ( https://www.centrepompidou.fr/en) läuft vom 26. Februar bis 20. April 2020.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Hermann Cuntz
Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience, Frankfurt am Main
Telefon: +49 69 96769-545; E-Mail: hermann.cuntz@esi-frankfurt.de
Weitere Informationen:
https://www.centrepompidou.fr/en Centre Pompidou
https://journals.plos.org/ploscompbiol/article/comments?id=10.1371/journal.pcbi.1000877 Artikel "One Rule to grow them all" in PLOS Computational Biology
https://vfs.fias.science/seafhttp/files/1b75a12d-2d7b-4cc8-9a41-5407d199608f/dendrites1080p.mp4 Video zur Installation