Ethnologische Forschung mit Wohnungslosen: Die Marginalisierten sichtbar machen
Die Corona-Krise trifft nicht alle Menschen in gleichem Maße. Darüber besteht große Einigkeit. Aber wie genau marginalisierte Gruppen die Pandemie er- und überleben und welche Konsequenzen für sie die Kontaktbeschränkungen haben, davon weiß man wenig. Luisa Schneider aus der Abteilung ‚Recht & Ethnologie‘ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ist nahe dran an wohnungslosen Menschen, deren Alltag sie seit 14 Monaten genau beobachtet. Ihre Erfahrung mit der Ebola-Epidemie in Westafrika hat dazu beigetragen, die Versorgung und den Schutz obdachloser Menschen in Leipzig in der Krise aufrechtzuerhalten und neue Hilfsangebote zu entwickeln.
Weniger Rechte ohne Wohnung
Luisa Schneider ist Ethnologin in der Abteilung ‚Recht & Ethnologie‘ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Sie erforscht seit März 2019 im Rahmen einer ethnografischen Langzeitstudie die Lebensbedingungen wohnungsloser Menschen. Dazu begleitet sie 27 Menschen in Leipzig über mehrere Jahre hinweg durch ihren Alltag. Um genau verstehen und beschreiben zu können, unter welchen Bedingungen das Leben auf der Straße stattfindet, verbringt sie sehr viel Zeit mit ihnen. Ein wichtiger Aspekt, der durch ihre Forschung deutlich wird, ist, dass wohnungslose Menschen häufig nicht in der Lage sind, ihre Rechte angemessen wahrzunehmen. „Einerseits haben immer mehr Menschen keine Wohnung, andererseits sind aber zahlreiche Grund- und Menschenrechte daran gebunden, dass man eine Wohnung und einen Mietvertrag hat“, sagt Schneider. „Elternschaft, Familienleben, Privatsphäre und auch der Schutz vor Gewalt sind für obdachlose Menschen nur eingeschränkt möglich."
Die Krise macht gefährdete Menschen noch verletzlicher
Jetzt während der Corona-Pandemie wird dieser Widerspruch noch deutlicher. Schneider hat persönlich erlebt, wie im Verlauf der Krise, die Situation wohnungsloser Menschen immer prekärer wurde: „Sie können Regeln wie häufiges Händewaschen und physische Distanzierung nicht befolgen. Und natürlich können sie auch nicht einfach in ihrer Wohnung bleiben, denn sie haben keine.“ Insbesondere das Kontaktverbot macht ihnen das Leben schwer. „Deshalb bedroht diese Krise überlebenswichtige Netzwerke und bewährte Formen der Solidarität. Das verstärkt wiederum die Abhängigkeit von offiziellen Hilfesystemen, die aber selbst nicht mehr in gewohnter Weise funktionieren können“, erklärt Schneider. So hat beispielsweise die Schließung von Suppenküchen und Tagesstätten die Versorgung mit dem Nötigsten erheblich erschwert und viele Menschen in existentielle Not gebracht.
Hilfe in Leipzig auf der Basis ethnologischer Forschung
Luisa Schneider hat zwischen 2011 und 2017 in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone in Westafrika, geforscht und dabei sowohl den Beginn als auch die verheerenden Folgen des Ebola-Ausbruchs 2014 miterlebt. Dort hat sie bereits Erfahrungen mit den sozialen Auswirkungen von schweren Gesundheitskrisen gemacht, die jetzt auch in Leipzig dazu beigetragen haben, dass auf die Bedürfnisse wohnungsloser Menschen schnell reagiert werden konnte. „Die gute Zusammenarbeit von Praktikern, Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern hat dabei geholfen, dass in Leipzig inklusive und effektive Lösungen gefunden und umgesetzt wurden, um Menschen zu helfen“, sagt Schneider. So hat die Stadt beispielsweise eine weitere Notschlafstelle in Betrieb genommen. Notunterkünfte sind jetzt ganztags geöffnet und bieten neben einem Schlafplatz auch kostenfreie Verpflegung an. Menschen, bei denen der Verdacht auf eine Infektion mit dem Corona-Virus besteht, erhalten auch dann ärztliche Hilfe wenn sie nicht krankenversichert sind. Durch die Erkenntnisse ihrer Feldforschung in Freetown und Leipzig ist es Schneider gelungen, zwischen wohnungslosen Menschen, Praktikern in der Wohnungslosenhilfe und politischen Akteuren erfolgreich zu vermitteln. Schneider: „Gemeinsam mit wohnungslosen Menschen entwickeln wir Hinweise, wie die Grundversorgung von besonders Bedürftigen weiterhin gewährleistet werden kann, wie sie sich isolieren und medizinische Hilfe bekommen können.“ Das zeigt, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur dazu führen, Notlagen und Schwächen zu erkennen. Sie können auch zu ihrer Linderung beitragen.
Ethnologisches Wissen in der Krise
Die Forschung von Luisa Schneider macht deutlich, was Sozialwissenschaften für die Gesellschaft leisten – nicht nur in Krisensituationen. Insbesondere Ethnologen können auf der Basis ihres Zugangs zu gesellschaftlichen Gruppen, die schwer erreichbar sind, dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und Stigmatisierungen entgegenzuwirken. Im Fall von Leipzig ist es darüber hinaus auch noch gelungen, die prekäre Situation hilfsbedürftiger Menschen rasch zu erkennen und schnell darauf zu reagieren. „Gerade in Krisensituation werden bereits marginalisierte Menschen nicht selten weiter ausgegrenzt und als Gefahr für die Gesellschaft wahrgenommen. Dann ist es für sie noch schwieriger, ihre Rechte wahrzunehmen und als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft anerkannt zu werden“, sagt Schneider. In Leipzig ist es dazu nicht gekommen. Die vorhandenen Hilfsstrukturen haben sich als stabil erwiesen und konnten sogar noch ausgebaut werden. Schneider: „Ich hoffe sehr, dass uns die jetzigen Erfahrungen dabei helfen, dass wir bedürftige Menschen in Zukunft besser vor Ausgrenzung und Entsolidarisierung schützen können. Denn in der aktuellen Krise sehen wir besonders deutlich, dass Wohnungslosigkeit kein individuelles, sondern ein politisches, ökologisches und gesamtgesellschaftliches Problem ist.“
Erforschung des globalen sozialen Wandels
Das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ist eines der weltweit führenden Forschungszentren auf dem Gebiet der Ethnologie (Sozialanthropologie). Es hat seine Arbeit 1999 mit den Gründungsdirektoren Prof. Dr. Chris Hann und Prof. Dr. Günther Schlee aufgenommen und 2001 seinen ständigen Sitz im Advokatenweg 36 bezogen. Mit Ernennung der Direktorin Prof. Dr. Marie-Claire Foblets im Jahre 2012 wurde das Institut um eine Abteilung zum Themenfeld ‚Recht & Ethnologie‘ erweitert. Forschungsleitend ist die vergleichende Untersuchung gegenwärtiger sozialer Wandlungsprozesse. Besonders auf diesem Gebiet leisten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Institutes einen wichtigen Beitrag zur ethnologischen Theoriebildung. Sie befassen sich darüber hinaus in ihren Projekten oft auch mit Fragestellungen und Themen, die im Mittelpunkt aktueller politischer Debatten stehen. Am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung arbeiten gegenwärtig 175 Wissenschaftler aus über 30 Nationen. Darüber hinaus bietet das Institut zahlreichen Gastwissenschaftlern Raum und Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch.
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