Friedensgutachten 2020 \ Im Schatten der Pandemie – Globale Lösungen für die globale Krise
Berlin, 16. Juni 2020. Die Corona-Pandemie hält die Welt 2020 in Atem. Sie verschlingt ungeahnte Ressourcen und hat weitreichende politische Interventionen in das gesellschaftliche Zusammenleben zur Folge. Gerade in fragilen Weltregionen drohen sozioökonomische Verwerfungen, politische Unruhen und gesellschaftliche Spaltungen. Davor warnen die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute im Friedensgutachten 2020, das sie heute auf der Bundespressekonferenz in Berlin vorstellten.
Unter dem Titel „Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa“ fordern sie von der Bundesregierung, sich in der EU und weltweit nicht nur bei der Bekämpfung von Corona noch inten-siver für kooperative Lösungen einzusetzen. Sie mahnen zudem an, trotz der Pandemie andere wichtige Themen nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu zählen global der Klimawandel, die Gefahr eines Cyber-Wettrüstens, die Rivalitäten zwischen den Großmächten und die dramatische Situation von Geflüchteten und Zivilisten in bewaffneten Konflikten. Wie die jüngsten Ereignisse nach dem Tod von George Floyd in den USA gezeigt haben, ist aber auch der innergesellschaftliche Frieden in Gefahr. Grenzübergreifend geht es um den Einsatz für Menschenrechte, den konstruktiven Umgang mit Massenprotestbewegungen sowie den Kampf gegen politisch oder religiös motivierte Hetze im Internet.
Zentrale Empfehlungen des Friedensgutachtens 2020 an die Bundesregierung:
1. Deutschland muss sich für ein globales Konjunktur- und Kooperationsprogramm einsetzen
„So sehr das Konjunkturprogramm der Bundesregierung zu begrüßen ist, so sehr wird es friedenspolitisch verpuffen, wenn es nicht durch ein globales Programm ergänzt wird“, befürchten die Herausgeberinnen und Herausgeber des Gutachtens. Dafür muss Deutschland in der EU werben und vorangehen. Wenn es nicht gelingt, den internationalen Handel wieder anzukurbeln und die Verelendung großer Bevölkerungsteile in Ländern des Globalen Südens zu verhindern, sind alle innerstaatlichen Programme zum Scheitern verurteilt. Darüber hinaus ist es wesentlich, die internationalen Institutionen zu stabilisieren – denn sie sind es, die Fehlentwicklungen und lokale Krisen rechtzeitig erkennen und bearbeiten können.
2. Klimaschutzpolitik muss politische Priorität behalten
In den jetzt angestoßenen Konjunkturprogrammen soll der Klimaschutz eine zentrale Rolle spielen. Das begrüßen die Herausgeberinnen und Herausgeber, mahnen aber an, dass das Hochfahren von Industrie und Wirtschaft nach der Pandemie auch langfristig den Klimaschutzzielen gerecht werden muss. Von der Bundesregierung fordern sie Maßnahmen an der Schnittstelle von Klima-, Entwicklungs- und Friedenspolitik, die auch Frühwarnung, Krisenprävention und die Analyse friedensrelevanter Auswirkungen des Klimawandels beinhalten. Gleichzeitig heben sie hervor: „Eine zivile Klimapolitik aus Emissionsvermeidung und Klimaanpassung muss konfliktsensitiv sein und die Unterschiede zwischen den Verursachern und den Geschädigten der Klimaveränderungen berücksichtigen.“
3. Strategische Leitlinien zum Umgang mit Protestbewegungen entwickeln
Protestbewegungen haben großes Potenzial für gesellschaftlichen Wandel. Zielen sie auf eine grundlegende Transformation bestehender Machtstrukturen, können sie aber auch in Chaos und Gewalt münden.
Die Bundesregierung verfügt bereits über eine Vielzahl von Ansätzen, um den Bedrohungen von Frieden, Menschenrechten und politischer Teilhabe zu begegnen. Es mangelt nicht an Instrumenten, um auf Anti-Regime-Proteste, aber auch auf andere Arten von Massenprotesten zu reagieren. Gleichzeitig war der Maßnahmeneinsatz in entsprechenden Krisen teils widersprüchlich und ließ keine Strategie erkennen. Um mehr konzeptionelle Klarheit und eine höhere Konsistenz praktischer Politik zu erreichen, empfehlen die Autorinnen und Autoren des Friedensgutachtens der Bundesregierung, im Dialog mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft bestehende Konzepte und Leitlinien zu überprüfen und ihr Profil bei der Krisenprävention und Konfliktbearbeitung in diesem Feld zu stärken. Wichtig ist dabei stets die Orientierung am Einzelfall, was entsprechende Kontextanalysen verlangt.
4. Bewaffnete Konflikte: Humanitäre Hilfe für Zivilbevölkerung sicherstellen und politische Lösungen für Gewaltkonflikte suchen
Der Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten wird in Corona-Zeiten noch prekärer.
Daher war der Aufruf des UN-Generalsekretärs António Guterres zu einem globalen Waffenstill-stand in allen Teilen der Welt die richtige Antwort. Die EU sollte vor allem die externen Kräfte im Syrienkonflikt – Russland, den Iran und die Türkei – zu einer Waffenruhe drängen, um die Lage um Idlib zu entspannen. „Geht es zunächst darum, die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe langfristig sicherzustellen, müssen Bundesregierung und EU dann, gleichsam im Schatten von Corona, eine politische Lösung des Konflikts anstreben“, betonen die Friedensforschungsinstitute. Ähnliches gilt für andere Konflikte wie etwa in Afghanistan, Somalia, Kongo, Jemen oder Mali.
Doch nicht nur die Lage der Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten, sondern auch die Situation von Geflüchteten verschlechtert sich derzeit drastisch. Auch hier können Bundesregierung und EU Zeichen setzen: „Mit Hilfe massiver EU-Unterstützung für Griechenland sollten die völlig überfüllten Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln aufgelöst, die Asylverfahren stark beschleunigt und anerkannte Flüchtlinge in aufnahmewillige EU-Staaten umgesiedelt werden“, empfehlen die Herausgeberinnen und Herausgeber des Friedensgutachtens.
Das Friedensgutachten ist die jährlich erscheinende Publikation des Bonn International Center for Conversion (BICC), des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) und des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Es analysiert aktuelle Gewaltkonflikte, zeigt Trends der internationalen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik auf und gibt Empfehlungen für die Politik.
Seit 1987 veröffentlichen die deutschen Friedensforschungsinstitute das Friedensgutachten als zentrales Medium für den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik. Mit seinen klaren Empfehlungen transferiert es wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Handlungsanweisungen. Interdisziplinäre Autorenteams aus Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Physik und Regionalwissenschaften arbeiten gemeinsam an den Kapiteln und bringen dabei verschiedene Blickwinkel ein.
Ansprechpartnerin für Presseanfragen
Barbara Dörrscheidt
doerrscheidt@hsfk.de
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Originalpublikation:
Das Friedensgutachten erscheint im transcript-Verlag. Die Printversion (ISBN: 978-3-8376-5381-6) ist im Buchhandel für 15 Euro erhältlich. Die digitale Version (ISBN: 978-3-8394-5381-0) ist kostenfrei zugänglich (open access) unter https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5381-6/friedensgutachten-2020/ sowie auf www.friedensgutachten.de
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