Neuerscheinung: Resonanz und Lebensqualität
Was ist ein gutes Leben? Diese Frage ist hochaktuell geworden in dieser Pandemie-Krise, die uns alle in die Quarantäne schickte und die digitale Kommunikation zum Mittel der ersten Wahl machte. Jetzt erschien der neue Sammelband des Erziehungswissenschaftlichen Kolloquiums an der Freien Hochschule Stuttgart, das sich mit dieser Frage befasst und keinen aktuelleren Zeitpunkt für sein Erscheinen hätte wählen können. „Resonanz und Lebensqualität. Weltbeziehungen in Zeiten der Digitalisierung. Pädagogische Perspektiven“ hrsg. von Edwin Hübner und Leonhard Weiss. Mit einem Vorwort von Hartmut Rosa.
Was ist nun also ein gutes Leben? In seiner 2016 erschienenen monumentalen Studie „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ legte Hartmut Rosa, Soziologe und Politikwissenschaftler, einen Entwurf vor, der eine Basis bilden kann für eine gemeinsame Diskussion. Die Mitglieder des Erziehungswissenschaftlichen Kolloquiums an der Freien Hochschule Stuttgart, in dessen Rahmen Erziehungswissenschaftler*innen verschiedener Hochschulen über aktuelle pädagogische Themen diskutieren, griffen diese Resonanztheorie auf und setzten sich kritisch mit ihr auseinander. In den halbjährlichen Treffen des Kolloquiums war Rosas Resonanz-Studie ab 2017 der zentrale Bezugspunkt der Gespräche. Aus diesen gingen zuletzt eine Reihe von Aufsätzen hervor, die in dem von Edwin Hübner und Leonard Weiss im Barbara Budrich Verlag herausgegebenen Sammelband „Resonanz und Lebensqualität. Weltbeziehungen in Zeiten der Digitalisierung. Pädagogische Perspektiven“ veröffentlicht wurden.
Rosa geht in seinen Überlegungen davon aus, dass die Qualität des menschlichen Lebens von seinen Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen abhängt. Diese Beziehung zur Welt beschreibt Rosa mit der Metapher der Resonanz. Auf vielfältige Weise zeigt er auf, wie Menschen ein tiefes Bedürfnis danach haben, mit den Weltdingen und mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Menschen wollen von außen angesprochen werden, aber auch selbst in der Welt und in Gemeinschaften wirksam sein. Rosa weist darauf hin, dass das Leben in der durch digitale Technik geprägten Welt die Resonanzen zwischen Menschen erschwert. Dabei ist seine Sicht nicht einseitig: „Die Prozesse und Möglichkeiten der Digitalisierung unserer Lebenswelt eröffnen ohne Zweifel zugleich viele neue Chancen und Opportunitäten und sogar neue Modi, mit der Welt in Resonanz zu treten oder zu bleiben“ (Rosa, Geleitwort in: Hübner/Weiß 2020, S. 9).
In der Summe zeigt sich, dass die Lebensqualität davon abhängt, wie es einem Menschen gelingt, Resonanzen zur Um- und Mitwelt zu erschließen. Wie lernt ein Mensch, resonanzfähig zu werden? Dies ist eine zentrale Frage der Pädagogik.
Ein Höhepunkt dieser Auseinandersetzung mit Rosas Werk war ein persönliches Treffen mit ihm. Das Kolloquium tagte Ende November 2018 ausnahmsweise einmal in Jena, um Hartmut Rosa die Teilnahme zu ermöglichen. Es war eine höchst anregende und inspirierende Diskussion, die auch dazu führte, dass er versprach zu dem damals noch im Entstehen begriffenen Sammelband ein Geleitwort beizutragen. Dieses Versprechen hielt er trotz enormer Arbeitsbelastung ein.
Der Sammelband ist Ende März 2020 erschienen. 14 Autoren befragen von den unterschiedlichsten Aspekten aus, wie die Begriffe Resonanz und Lebensqualität für bildungswissenschaftliche Überlegungen fruchtbar gemacht werden können. Der Band gliedert sich dabei in drei Schwerpunkte.
Der erste Teil betrachtet grundlegende Perspektiven. Er wird von Wolfgang Nieke mit dem Beitrag „Lebens-Qualität als Orientierung für pädagogisches Denken“ eröffnet. Nieke erörtert die Frage, wie die beiden zentralen pädagogischen Aufgaben der Enkulturation und der Supportivität am Begriff der Lebensqualität aus-gerichtet werden können. Ingrid Classen-Bauer, Jörg Soetebeer, und Leonard Weiss tragen weitere grundlegende Aspekte zur Frage der Lebensqualität sowie der Resonanz bei. Thomas Damberger beschließt diesen ersten Schwerpunkt mit dem Thema „Künstliche Intelligenz und Pädagogik“.
Der zweite Schwerpunkt nimmt entwicklungsbezogene Perspektiven ein. Er wird von Edeltraud Röbe eröffnet. Sie blickt auf die frühe Kindheit und schildert, wie diese in den Sog der Digitalität gerät. Um dem etwas entgegenzusetzen, plädiert sie entschieden für eine „Besinnung auf das Pädagogische“, die von der Tatsache ausgeht, dass „Bildung Selbstbildung ist“ (S. 202). Hier können gerade früh pädagogische Institutionen bewusst Resonanzräume eröffnen, in denen Kinder elementare Bildungserfahrungen machen können. Peter Lutzker geht anschließend auf die Bedeutung der Entwicklung der Sinne ein und wie sie eine unentbehrliche Grundlage für die Entwicklung von Lebensqualität und Resonanz sind. Sebastian Suggate hat einen ähnlichen Aspekt, indem er auf die Entwicklung der Feinmotorik schaut. Am Ende des zweiten Teils gehen Peter Loebell und Edwin Hübner auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen im digitalen Zeitalter ein.
Die Beiträge von Michael Toepell, Anna-Maria Schirmer sowie Florian Theilmann im abschließenden dritten Teil nehmen von drei Blickrichtungen aus eine didaktische Blickrichtung ein. Michael Toepell fragt nach den Perspektiven einer kindgerechten mathematischen Bildung, deren Methodik Momente des „Mitschwingens, der Beziehungsbildung, der Motivation durch Resonanzbeziehung“ (S. 375) ermöglichen. Anna-Maria Schirmer schaut auf den Beitrag, den Kunstpädagogik geben kann, um Kinder und Jugendliche anzuregen, in einer digitalisierten Alltagsumgebung Momente einer „Neuorientierung des Wahrnehmens und Denkens“ (S. 410) zu schaffen und damit auch ihre Beziehung zur Welt neu zu greifen. Der abschließende Beitrag von Florian Theilmann geht der Frage nach, wie sich seit 1952 in den Physiklehrplänen das jeweilige Wissenschaftsbild zeigte, aber auch welche Tugenden die Schüler*innen im Physikunterricht ausbilden sollten. Theilmann kommt zu dem Ergebnis, dass „die drei Tugenden Ordentlichkeit, Rationalität und Fleiß [...] so etwas wie bildungspolitische Konstanten“ sind, aus denen „sich konkrete naturwissenschaftliche Bildungspläne ableiten lassen“ (S. 447). Allerdings wird in diesen Plänen die Rolle des Sinnerlebens und die pädagogische Bedeutung der Bemühung um eine selbstständige Klärung des Verhältnisses von Mensch und Welt nicht weiter entwickelt. Theilmanns Fazit: Die bisherigen Lehrpläne tragen zur Entwicklung von Lebensqualität im Sinne von Hartmut Rosas Resonanzkonzept nichts bei. Allerdings geben jüngere Entwicklungen in der Diskussion über die Physikdidaktik Anlass zu Hoffnungen.
Der Sammelband ist mit 450 Seiten zwar relativ umfangreich geworden, aber der Umfang und vor allem die Vielfalt seiner Beiträge gibt ein beredtes Zeugnis von der außerordentlich konstruktiven und fruchtbaren Zusammenarbeit der Menschen, die sich im Erziehungswissenschaftlichen Kolloquiums an der Freien Hochschule Stuttgart zweimal jährlich treffen und intensiv miteinander diskutieren.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Edwin Hübner