Als man das Autofahren noch an der Hochschule lernte
Reich verzierter Papierbogen statt Plastikkarte, Motorentechnik statt Abbiegere-geln – ein historisches Fundstück der TH Bingen erzählt von den Anfängen des Führerscheins.
Eine Dame in edlem Gewand, ein üppiger Blumenstrauß, das Rheinthal – bei solchen Bildern denkt wohl niemand an einen Führerschein. Und doch steht auf dem großen Papierbogen, der diese Bilder zeigt, deutlich lesbar: „Befähigung als Kraftfahrzeug-Lenker“. Ausgestellt hat das Dokument die sogenannte Chauffeurschule am „Rheinischen Technikum Bingen“, dem Vorläufer der heutigen Technischen Hochschule (TH) Bingen. Das belegt die Unterschrift Hermann Hoepkes, des Gründungspräsidenten des Technikums, vom 10. März 1906.
Der Münsteraner Fritz Bowe, auf den das Dokument ausgestellt ist, musste damals nicht nur Verkehrsregeln beherrschen, sondern auch die Technik seines Fahrzeugs im Detail kennen. So stand bei der Abschlussprüfung neben einer Autofahrt auch das eigenhändige Zusammensetzen des Motors auf dem Programm. Kein Wunder also, dass die Chauffeurschulen an Hochschulen wie dem Rheinischen Technikum angesiedelt waren.
Der heutige Präsident der TH Bingen Prof. Dr. Klaus Becker, der das Dokument aus den Niederlanden erhalten hat, freut sich besonders über das historische Stück: „Weil es zu dieser Zeit noch keine deutschlandweit einheitliche Regelung der Fahrerlaubnis gab, stellt dieser Führerschein eine echte Besonderheit dar. Zudem zeigt er die Bedeutung, die das Technikum schon wenige Jahre nach seiner Gründung hatte.“
In welchen Teilen Deutschlands Bowe mit seiner Fahrerlaubnis unterwegs sein durfte, ist schwer zu sagen. Sicher ist dagegen, dass er als Autofahrer um die Jahrhundertwende ein echter Exot war. So berichtete er später in einem Zeitungsartikel, dass er neben Bewunderung auch Mitleid für seinen Wagemut erntete. Der Grund dafür: Man habe ständig damit gerechnet, „dass so ein Fahrzeug mitsamt seinem Fahrer plötzlich explodierte und sich in Atome auflöste“.