40 Jahre Forschung am Herzen des Sozialstaats
Kein Rechtsgebiet prägt das Leben der Menschen so stark wie das auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogene Sozialrecht. Es von allen Seiten zu beleuchten und Erkenntnisse über die verschiedenen Formen der sozialen Sicherung im In- und Ausland zu gewinnen, ist eine wesentliche Aufgabe des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, das 1980 als Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht gegründet wurde. Dabei beschäftigen sich die Forscher/innen zum einen mit grundlegenden rechtswissenschaftlichen Fragen, zum anderen mit drängenden aktuellen Problemen wie dem demographischen Wandel, der Veränderung der Arbeitswelt oder der Corona-Krise.
Für die Sozialrechtsforschung war die Gründung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht unter seinem Direktor Prof. Hans F. Zacher ein Meilenstein. Erstmals nach dem 2. Weltkrieg haben Rechtswissenschaftler/innen das nationale Sozialrecht systematisch erfasst und mit ausländischen Rechtsordnungen verglichen – immer auf der Suche nach Erkenntnissen, die zum einen das theoretische Fundament der Sozialrechtswissenschaft weiterentwickeln, zum anderen aber auch ganz praktisch zur Lösung sozialer Probleme beitragen können. So hat ihre Arbeit immer wieder Reformen im Sozialbereich im In- und Ausland angestoßen. „Hans F. Zacher und seine Mitarbeiter haben Herausragendes geleistet. Ihnen gelang die Neugründung der Sozialrechtswissenschaft“, sagt Prof. Ulrich Becker, der seit 2002 als Direktor die sozialrechtliche Forschung leitet. Mit der Berufung von Prof. Axel Börsch-Supan als zweitem Direktor im Jahr 2011 erhielt das Institut eine sozialpolitische Abteilung mit ökonomischer Ausrichtung, das Munich Center for the Economics of Aging (MEA), und wurde in Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik umbenannt.
In 40 Jahren haben die Wissenschaftler/innen das brachliegende Feld der nationalen und internationalen Sozialrechtsforschung nach allen Regeln der Wissenschaftskunst fruchtbar gemacht. Die Wegbereiter unter Hans F. Zacher näherten sich ihrer komplexen Materie mit einer Reihe wegweisender Arbeiten zum Sozialstaatsprinzip, zur Entstehung der Sozialversicherung und zum Sozialgesetzbuch an. Zacher entwickelte auch eine neue Systematik des Sozialrechts, die zu einem Standard in der juristischen Ausbildung geworden ist. Eine besondere Bedeutung hatte von Anfang an das supranationale Recht der Europäischen Gemeinschaft. Auch hier leistete das Institut Pionierarbeit und legte in den 1980er Jahren mit verschiedenen Werken die theoretische Basis zum Verständnis des Kollisions- und Koordinationsrechts für Sozialleistungen.
Neuausrichtung nach Ende des Ost-West-Konflikts
Prof. Bernd Baron von Maydell, der Zacher als Direktor nachfolgte, als dieser 1990 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft wurde, richtete die Arbeit des Instituts auf die Transformationsprozesse in der Arbeitswelt und im Sozialschutz aus. Besonderes Augenmerk wurde auf die ehemals sozialistischen Länder in Ost- und Mitteleuropa gelegt, deren Sozialstaatlichkeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks neu begründet werden musste. So hat von Maydell unter anderem in Polen beim Aufbau eines neuen Sozialversicherungssystems geholfen. Im Zentrum der Forschung standen aber nicht nur die sozialrechtlichen Folgen des politischen Umbruchs, sondern zunehmend auch die Reformbedürftigkeit des deutschen Sozialstaats, der damals gerne als „kranker Mann Europas“ bezeichnet wurde.
Die aufgrund gesellschaftlicher und politischer Veränderungen permanent erforderlichen Anpassungen des Sozialstaats sind bis heute ein Kernbereich der Institutsforschung. Zudem beschäftigen sich die Wissenschaftler/innen mit den Folgen der fortschreitenden Europäisierung und Internationalisierung des Sozialrechts und untersuchen die immer stärker sichtbar werdenden Verschränkungen zwischen verschiedenen Sozialleistungssystemen. Hinzu kam eine starke thematische Ausweitung auf sozialpolitische Fragestellungen, die seit 2011 vor allem vom MEA, der zweiten Abteilung des Instituts, aber auch in interdisziplinären Projekten bearbeitet werden. Die beiden Abteilungen analysieren beispielsweise gemeinsam Exklusionsmechanismen im Asyl- und Ausländerrecht.
Am Puls der Zeit: Aktuelle Forschung zur Corona-Krise
Angesichts der Anfälligkeit der Sozialpolitik und des Sozialrechts für aktuelle Entwicklungen ist es heute wichtiger denn je, den Sozialstaat in seiner Breite und Vielfalt zu erforschen. Die Corona-Krise hat dies wieder exemplarisch vor Augen geführt. Bereits kurz nach ihrem Ausbruch in Europa haben die Forscher/innen am Institut damit begonnen, die sozialen Folgen der Krise und die sozialstaatlichen Maßnahmen ihrer Bewältigung zu untersuchen. Die Rechtswissenschaftler/innen legten im Mai die Studie „Existenzsicherung in der Corona-Krise: Sozialpolitische Maßnahmen zum Erhalt von Arbeit, Wirtschaft und sozialem Schutz“ vor, die demnächst aktualisiert wird. Die sozialpolitische Abteilung wiederum berechnete die Auswirkungen der Krise auf Rentner und Beitragszahler. Sie erforscht zudem die gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen von COVID-19 im Rahmen der Langzeitstudie „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“ (SHARE). Gerade in der Krise hat sich ein Satz des Gründungsdirektors Hans F. Zacher bewahrheitet: „Kein anderes Recht bestimmt so unmittelbar die Befindlichkeit des Menschen und der Gesellschaft wie das Sozialrecht.“
Weitere Informationen:
http://www.mpisoc.mpg.de