Generationenwechsel hilft Fledermäusen, mit der Erderwärmung Schritt zu halten
Viele Tierarten verändern aufgrund der Erderwärmung aktuell ihre Verbreitungsgebiete. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind bisher wenig bekannt, insbesondere bei Säugetieren. Ein internationales Wissenschaftlerteam unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) fand nun heraus, dass beim Großen Abendsegler, einer der größten einheimischen Fledermausarten, die Besiedlung weiter nördlich gelegener Überwinterungsgebiete über aufeinanderfolgende Generationen von Jungtieren – insbesondere jungen Männchen – erfolgt.
Aufgrund seiner relativ hohen Fortpflanzungsrate und des starken Abwanderungsverhaltens der Jungtiere könnte es dem Großen Abendsegler leichtfallen, sich an die Erderwärmung anzupassen. Für Arten mit geringerer Fortpflanzungsrate und einem geringeren Abwanderungspotenzial der Jungtiere – die Mehrzahl der einheimischen Fledermausarten – könnte die Zukunft angesichts der fortschreitenden Erderwärmung nicht so günstig aussehen. Der Aufsatz ist in der Fachzeitschrift Biology Letters erschienen.
Das rasante Tempo der Erderwärmung zwingt Tiere zu vielfältigen Anpassungen, um ihr Überleben zu sichern und sich weiterhin erfolgreich fortpflanzen zu können. Mobile Arten, wie etwa fernziehende Fledermäuse, könnten flexibel je nach Klimaentwicklung ihre Sommer- und Überwinterungslebensräume in den Norden oder Süden verlagern, um konstant gute Bedingungen vorzufinden. In der Tat wurde in den letzten Jahren beobachtet, dass sich das Überwinterungsareal des Großen Abendseglers immer weiter in den Norden verschob. Aber sind es dieselben Individuen, die Jahr für Jahr weiter nach Norden zum Überwintern vordringen, oder handelt es sich um Arealverschiebungen von Generation zu Generation? Dies untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-IZW mit Partnern aus der Ukraine – dem „Bat Rehabilitation Center of Feldman Ecopark“ und dem „Ukranian Independent Ecology Institute“.
“Wir stellten für den Großen Abendsegler fest, dass die Verschiebung des Überwinterungsareals in Richtung Norden über mehrere Jungtiergenerationen läuft“, sagt Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW. „Besonders junge Männchen, die von ihrem Geburtsort in der Regel weiter abwandern als junge Weibchen, sind bei der Etablierung neuer Überwinterungsgebiete von Bedeutung.“ Große Abendsegler, die eine kurze Lebenserwartung und eine hohe Reproduktionsrate aufweisen, können auf diese Weise vermutlich relativ schnell auf die Erderwärmung reagieren, auch wenn sich die Verbreitungsgrenze in Gänze nur langsam von Generation zu Generation verschiebt.
Die Untersuchung wurde in der nordukrainischen Stadt Charkiw gemacht. Überwinternde Tiere wurden in Charkiw erstmals vor ungefähr 30 Jahren angetroffen. Früher zogen die Fledermäuse zum Überwintern weiter in den Süden. Über einen zehnjährigen Zeitraum sammelte das Wissenschaftlerteam Daten zum Alter und Geschlecht von fast 3.400 Individuen. Diese Daten zeigten, dass junge Männchen überdurchschnittlich häufig in der Anfangsphase der Kolonisierung des neuen Überwinterungsgebiets vertreten waren. Nach und nach glich sich das Verhältnis von Männchen zu Weibchen und von Jungtieren zu erwachsenen Tieren aus. „Wir untersuchten mithilfe der Analyse von stabilen Wasserstoffisotopen im Fellkeratin die Herkunftsregion der überwinternden Großen Abendsegler“, berichtet Kseniia Kravchenko vom Leibniz-IZW, die Erstautorin des Aufsatzes. „Die Daten von knapp 400 Tieren zeigen einen klaren Trend: Die Zahl der Fernzieher nahm bei Weibchen wie bei Männchen und über alle Altersgruppen ab“. Dies zeige vor allem, dass in den Anfangsjahren der Kolonisierung die Überwinterungsgäste aus den Populationen kamen, deren Wochenstuben und Sommerquartiere sich im hohen Norden befinden, inzwischen aber vermehrt Individuen die Gegend von Charkiw zur Überwinterung nutzen, die in der Nähe ihre Sommerquartiere und Wochenstuben haben und nicht mehr weiter gen Süden fliegen.
Der schnelle Generationenwechsel und das hohe Abwanderungspotenzial junger Männchen scheinen ein evolutionärer Vorteil der Großen Abendsegler in Zeiten des Klimawandels zu sein, schließen die Autorinnen und Autoren. „Säugetierarten mit höherer Lebenserwartung und geringerem Abwanderungspotenzial der Jungtiere haben es sicherlich erheblich schwerer, mit der Geschwindigkeit der Erderwärmung Schritt zu halten“, vermuten Kravchenko und Voigt. „Wenn sich die Areale dieser Arten ebenfalls nur von Generation zu Generation verändern, könnte es sein, dass sie bei anhaltender Erderwärmung aussterben.“ Um diese Mechanismen der räumlichen Anpassung an den Klimawandel auch bei weiteren Säugetierarten zu verstehen, wird weiterführende Forschung nötig sein.
Kontakt Wissenschaftskommunikation:
Leibniz-IZW
Jan Zwilling
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Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung
im Forschungsverbund Berlin e.V.
PD Dr. Christian Voigt
Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie
Tel. +49 (0)30 5168511
E-Mail voigt@izw-berlin.de
Kseniia Kravchenko
Doktorandin in der Abteilung für Evolutionäre Ökologie
Tel. +49 (0)30 5168327
E-Mail kravchenko@izw-berlin.de
Originalpublikation:
Kravchenko K, Vlaschenko AS, Lehnert LS, Courtiol A, Voigt CC (2020): Generational shift in the migratory common noctule bat: First-year males lead the way to hibernacula at higher latitudes. Biology Letters.
https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsbl.2020.0351