Home Office in Pandemie-Zeiten – ein unfreiwilliges Experiment
Prof. Dr. Arjan Kozica entwickelt an der Hochschule Reutlingen Instrumente, mit denen Unternehmen den Weg in die digitalisierte Arbeitswelt meistern
Viele Menschen hoffen, nach der Corona-Krise weiter im Home Office arbeiten zu können. Einen gesetzlichen Mindestanspruch könnte es bald geben, doch sind die Modelle, die jetzt notgedrungen in der Pandemie funktionieren, auch langfristig erfolgreich? „Wenn die Unternehmenskultur nicht stimmt, werden wir schnell wieder zu alten Mustern zurückkehren oder unproduktiv werden“, vermutet Prof. Dr. Arjan Kozica von der Fakultät ESB Business School der Hochschule Reutlingen. In seiner Forschung beschäftigt sich der Professor für Organisation und Leadership mit der Frage, wie es kleinen und mittleren Unternehmen gelingen kann, ihre Geschäfts- und Arbeitsmodelle erfolgreich zu digitalisieren.
Immer mehr Arbeitsabläufe verändern sich durch neue Technologien, Wissen entsteht in digitaler und interaktiver Zusammenarbeit, intelligente Algorithmen treffen sogar schon Personalentscheidungen. Die Veränderungen für Unternehmen und ihre Mitarbeitenden sind immens. Das Beispiel Home Office zeigt, wie komplex eine solcher Wandel ist: Man braucht nicht nur neue Regeln und Laptops für alle. Auch die Unternehmenskultur ist wichtig, Führungskräfte müssen vor allem genug Vertrauen in ihre Mitarbeitenden haben. Diese wiederum müssen kompetent genug sein, um sich im Home Office zu organisieren und effizient zu arbeiten. Besonders knifflig ist die Teamdynamik: Was passiert in einem Team, wenn jemand nicht vor Ort im Büro ist? Wird er ausgeschlossen vom informellen Informationsfluss? Werden die Arbeiten anders verteilt? „All das sind Fragen, mit denen Unternehmen sich beschäftigen müssen, wenn sie den Wandel hin zum Home Office oder ganz allgemein zu neuen Technologie-gestützten Arbeitsmodellen erfolgreich und zum Wohle aller gestalten wollen“, verdeutlicht Kozica. In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt DigiTrain 4.0 hat er im Verbund mit der Universität München und Partnern aus dem Gesundheitswesen Instrumente entwickelt, mit denen kleine und mittlere Unternehmen herausfinden, wie weit sie mit der Digitalisierung sind (Digitalisierungsatlas). Sie können ihre Ziele herausarbeiten (Digitalisierungsindex) und Wege dorthin finden (Digitalisierungs-kompass). Nach drei Jahren ist das Projekt nun fast abgeschlossen, die erarbeiteten Methoden und Werkzeuge sind veröffentlicht und für alle Unternehmen online zugänglich (https://digitrain40.de/).
Einen ganz anderen, weniger systematischen Ansatz verfolgt Kozica gemeinsam mit dem Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). In einem Projekt für die AOK Baden-Württemberg geht es um die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation so genannter Experimentierräume. In einem vorgegebenen experimentellen Rahmen können Mitarbeitende und Führungskräfte gemeinsam neue Arbeitsmodelle ausprobieren. Die Forschungsgruppe „Managing Transformations in Organizations, Work and Society“ der ESB Business School der Hochschule Reutlingen und das Fraunhofer IAO stehen ihnen dabei beratend zur Seite. Die AOK-Mitarbeiter erproben zum Beispiel verschiedene Wege der Selbstorganisation oder den 5-Stunden-Tag. Können wir in fünf Stunden genauso produktiv sein wie in acht, ohne dass es zu Lasten unserer Gesundheit geht, indem wir unnötige Ablenkungen vermeiden? Das Ergebnis der Experimentierräume ist offen.
Mit Blick auf die Corona-Krise und den unfreiwilligen, abrupten Wechsel zum Home Office rät Kozica: „Die Unternehmen sollten es machen wie die Wissenschaftler: Ein Chemiker schüttet Flüssigkeiten zusammen und schaut gezielt und bewusst, wie die Reaktionen sind. Wenn wir mit der gleichen Experimentierhaltung an die jetzige Situation herangehen, wenn wir beobachten, kritisch hinterfragen, und Schlüsse ziehen, können wir viel für die Zukunft lernen.“