Zwillinge – doppeltes Glück oder Achillesferse der Kinderwunschmedizin?
Das jüngst erschienene Jahrbuch 2019 des Deutschen IVF-Registers (D·I·R) informiert über die Ergebnisse und die Erkenntnisse aus über 100.000 Kinderwunschbehandlungen jeweils in den Jahren 2018 und 2019. Es beschäftigt sich dabei auch mit den mittlerweile erkennbaren Lösungen, im Sinne der Gesundheit von Mutter und Kind die Mehrlingsschwangerschaften reduzieren zu können, ohne die Chancen auf Schwangerschaft und Geburt dabei nachhaltig zu senken. Denn: Erfolg in der Kinderwunschbehandlung bedeutet die Geburt eines gesunden Kindes mit einer gesunden Mutter. Warum ist das Verhindern von Mehrlingen in Deutschland unter Strafandrohung verboten?
Als Zwilling geboren zu sein, das bedeutet immer jemand Gleichaltrigen zum Spielen zu haben. Es bedeutet aber häufig auch, um viele Wochen zu früh geboren zu sein. Und als Frühchen auf die Welt zu kommen, das wiederum kann bedeuten, die ersten Lebensmonate im Brutkasten und am Beatmungsgerät zu verbringen und per Sonde ernährt zu werden, weil die Kraft noch fehlt, allein zu atmen und an der Brust zu trinken. Sorgen machen Kinderärzten und den Kinderwunschzentren insbesondere die Frühgeborenen vor der 28. Schwangerschaftswoche. Das Risiko, derartig extrem früh geboren zu werden, steigt von 1,4 % bei Einlingsschwangerschaften über 5,5% bei Zwillingsschwangerschaften zu 14,3 % bei Drillingsschwangerschaften(*). Erklärtes Ziel der Kinderwunschmedizin in Deutschland ist es, Schwangerschaften mit Mehrlingen als wichtigsten Risikofaktor für eine Frühgeburt zu reduzieren.
Zwillinge sind kein Zufall
„Dass bei einer künstlichen Befruchtung Zwillingsschwangerschaften entstehen, ist kein Zufall“, erläutert Dr. med. Ute Czeromin, Vorstandvorsitzende des Deutschen IVF-Registers und Leiterin einer Kinderwunschpraxis in Gelsenkirchen. „Zwei gesetzliche Beschränkungen verhindern es in Deutschland, dass wir Kinderwunschpatientinnen mit einer guten Chance auf den Eintritt einer Schwangerschaft konsequent nur einen Embryo in die Gebärmutter einsetzen. Es sind Regelungen im Sozialgesetzbuch, die den Paaren in einer Kinderwunschbehandlung eine 50%ige Selbstbeteiligung an den Kosten auflegen und eine Höchstzahl von drei Behandlungszyklen festgesetzt haben. Das setzt die Frauen mit Kinderwunsch sehr unter Druck, und viele riskieren in dieser Situation lieber eine Mehrlingsschwangerschaft, statt dass ihre Chancen eventuell etwas schlechter werden, in diesem Zyklus schwanger zu werden.“
Die zweite gesetzliche Beschränkung, so Czeromin, ist das Embryonenschutzgesetz, das Ärzten unter Androhung von Freiheits- oder Geldstrafen verbietet, unbeschränkt denjenigen von mehreren Embryonen auszuwählen, der sich in den ersten Tagen am stabilsten entwickelt.“
Das braucht eine Erläuterung, und die liefert die Biologie. Nach der natürlichen Verschmelzung von Ei- und Samenzelle nach einem ganz normalen Sex geht in ungefähr jedem zweiten Fall irgendetwas ganz grundsätzlich schief. Die Zellen des frühen mehrzelligen Embryos teilen sich dann zu langsam, nicht regelmäßig, hören mit dem Wachstum irgendwann auf und sterben ab. Der Kontakt mit der Gebärmutterwand löst sich, das punktgroße Zellknäuel wird ausgeschieden. Auf zum nächsten Versuch im nächsten Zyklus. Czeromin kommentiert: „Fortpflanzungsmedizin kann nicht besser sein als die Natur, nicht jeder Keim wächst! Der Transfer von zwei Embryonen führt zu etwas besseren Schwangerschaftschancen in diesem Zyklus, man erkauft sich das aber mit einem ganz erheblich erhöhten Risiko, dass es zu einer Mehrlingsschwangerschaft kommt. 85% der Babys aus solchen Zwillings- und Drillingsschwangerschaften kommen als Frühgeborene auf die Welt. Das gilt es zu vermeiden, und das kann die Kinderwunschmedizin heutzutage!“
Kinderwunschmedizin ist kein Lotteriespiel
In der Kinderwunschmedizin wurde seit den 90er Jahren die Eizelle mit Spermien in Kontakt gebracht (In-Vitro-Fertilisation, IVF) oder auch ein Spermium direkt in die Eizelle hinein injiziert (Intra-cytoplasmatische Spermien-Injektion, ICSI). Befruchtete Eizellen wurden nach begonnener Zellteilung in die Gebärmutter gesetzt. Und um die Chance zu erhöhen, dass bei diesen befruchteten Eizellen mindestens ein entwicklungsfähiger Embryo dabei ist, wurden maximal drei Embryonen zurückgesetzt. Manchmal ging die Rechnung auf und es gingen tatsächlich alle Embryonen außer einem zugrunde, so dass am Ende eine problemlose Schwangerschaft mit einem Einling erreicht wurde. Häufig kam es aber zu Zwillings-, Drillings- oder auch Vierlingsschwangerschaften: Da aus einem in die Gebärmutter übertragenen Embryo zusätzlich eine eineiige Zwillingsanlage entstehen kann, ist bei diesem Vorgehen das Risiko für höhergradige Mehrlingsschwangerschaften deutlich erhöht. Wegen der sehr hohen Frühgeburtenraten ist das heute unerwünscht.
Mehrlinge verhindern – in Deutschland unter Strafandrohung verboten
Die Forschung hat inzwischen Kriterien entwickelt, um in den Tagen nach der Befruchtung einer Eizelle sehr zuverlässig festzustellen, ob ein Embryo gute Entwicklungschancen hat. Dabei geht es nicht um Augenfarbe oder Körpergröße, sondern allein um die biologische Fähigkeit des Embryos, regelrecht weiterzuwachsen und sich mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich in der Wand der Gebärmutter einzunisten. Entnimmt man also aus dem Eierstock mehrere reife Eizellen, befruchtet sie und beobachtet ihre Entwicklung über drei bis fünf Tage unter optimalen Bedingungen, dann weiß man sehr gut, welcher dieser Mini-Embryonen nach dem Einsetzen in die Gebärmutter die besten Chancen hat. Setzt man nur diesen einen Embryo in die Gebärmutter zurück, führt das mit einer großen Wahrscheinlichkeit in eine erfolgversprechende Einlings-Schwangerschaft. Alle anderen Embryonen, die in demselben Zyklus entstanden sind und ebenfalls eine sehr gute biologische Qualität haben, werden eingefroren für spätere Versuche, falls in diesem Zyklus keine Schwangerschaft eintritt oder wenn später noch weitere Geschwisterkinder gewünscht werden.
Wie ein Wetterhahn für einen Großflughafen
Der Fachbegriff hierfür lautet „elektiver Single Embryo-Transfer“, abgekürzt eSET, ein internationaler Standard. Das Kultivieren mehrerer befruchteter Eizellen, um anschließend nur einen Embryo für die Einpflanzung auszuwählen, und das regelhafte Einfrieren überzähliger Embryonen sind in Deutschland unter Strafandrohung verboten. Das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1991 kannte nämlich weder die die tagelange, systematische Beobachtung des Wachstums der frühen menschlichen Entwicklung noch die Kältekonservierung. Es kannte viele wissenschaftliche Entwicklungen nicht, die sich in den letzten 30 Jahren ereignet haben. Es ging auch noch davon aus, dass sich aus jeder befruchteten Eizelle ein Embryo entwickelt und dass das Überleben in der Gebärmutter vom Zufallsprinzip abhängig sei. Es ist für die Regulierung der modernen Kinderwunschmedizin in etwa so geeignet wie ein Wetterhahn für die Sicherheit eines Großflughafens.
Wenn weniger für Mutter und Kind mehr bedeutet
In Schweden und den Niederlanden kommt es in der Kinderwunschmedizin wegen der breiten Anwendung des eSET nur noch bei weniger als 5% aller Schwangerschaften zu einer Mehrlingsgeburt. Das ist auch einer der wesentlichen Gründe dafür, dass in beiden Ländern insgesamt die Frühgeburtenrate deutlich niedriger ist als in Deutschland.
Aber auch in Deutschland versuchen die Kinderwunschzentren, so oft wie möglich Mehrlingsschwangerschaften zu vermeiden, ohne dabei Gesetzesbrecher zu werden. Verboten laut Embryonenschutzgesetz ist nämlich nicht, dass viele Eizellen befruchtet werden. Verboten ist lediglich, dass mit Absicht und Vorsatz regelmäßig mehr Embryonen entstehen als notwendig sind, um bei dieser Frau in diesem Zyklus eine Schwangerschaft entstehen zu lassen. Dafür werden nach der Hormonstimulation in der Mitte des Zyklus standardmäßig so viele Eizellen wie möglich aus den Eierstöcken gewonnen und mit Samenzellen zusammengebracht. Durchschnittlich zeigen 60% der gewonnenen Eizellen eine regelrecht abgelaufene Befruchtung und können kurz VOR dem Moment, an dem sich der weibliche und der männliche Chromosomensatz zu dem neuen individuellen Chromosomensatz des Embryos vereinigen, auch eingefroren werden. Weiter als bis zu diesem Zeitpunkt dürfen sich nur so viele befruchtete Eizellen entwickeln, wie gebraucht werden, um in diesem Zyklus einen Schwangerschaftseintritt wahrscheinlich zu machen. Nach den Regeln des alten Gesetzes sind das maximal drei Eizellen. Alle anderen befruchteten Eizellen werden eingefroren.
Die weitere Entwicklung der nicht eingefrorenen, befruchteten Eizellen wird beobachtet. Ist sie befriedigend, kann der am besten entwickelte Embryo nach fünf Tagen eingesetzt werden. Sollten wider Erwarten mehr als der eine Embryo entstehen, kann und sollte dieser Embryo eingefroren werden, um für einen weiteren Embryotransfer zur Verfügung zu stehen.
Viele Paare wollen aber trotzdem auf Nummer sicher gehen und lassen sich zwei statt nur einen gesunden Embryo einsetzen, weil das Einsetzen von zwei „guten“ Embryonen statistisch von einer höheren Rate an Schwangerschaften gefolgt ist und weil zudem jeder zusätzliche Behandlungszyklus mit erheblichen, oft vierstelligen Mehrkosten behaftet ist. Unter Verwendung dieser besonderen Kulturmethode wurden im Jahr 2018 in Deutschland insgesamt 13.761 Single-Embryo-Transfers durchgeführt, die zur Geburt von 3.510 geborenen Kindern führten. Davon kamen 96 % als Einlinge zur Welt. Dem gegenüber wurden 21.051 Double-Embryo-Transfers durchgeführt, die zur Geburt von 8.096 Kindern führten, von denen nur 56% als Einlinge geboren wurden(*).
Politik, Beratung und vor allem: Die richtige Entscheidung
„Wenn man bedenkt, dass Mehrlingsschwangerschaften und Frühgeburtlichkeit Probleme mit sich bringen können, sprechen wir hier wirklich über eine Achillesferse, die eigentlich keine sein müsste“, so Dr. Ute Czeromin. „Die Frühgeburtenzahl bei Zwillingen ist in der Kinderwunschmedizin trotz bester medizinischer Versorgung viel höher als bei Frauen, die ein einziges Kind erwarten. Wir können im Deutschen IVF-Register die wissenschaftlichen Fakten statistisch untermauern, die Politik muss die Sozialgesetzgebung und das Embryonenschutzgesetz nach 30 Jahren aktualisieren.“ Und sie fügt hinzu: „Wir können diese Mehrlingsschwangerschaften und das Frühgeburtenrisiko aber bereits heute und jeden Tag beeinflussen: Immer mehr Beratungsgespräche zwischen den Kinderwunsch-Ärztinnen und -Ärzten mit dem Paar haben dies mittlerweile im Fokus, und immer mehr Paare entscheiden sich richtigerweise für den Single-Embryo-Transfer.“
Über das Deutsche IVF-Register
Die Öffentlichkeit fordert Information und Transparenz im Hinblick auf Diagnostik und Behandlungen auf dem sensiblen Gebiet der Kinderwunschmedizin. Diese Forderung ist berechtigt. Nur mit einer zuverlässigen und kontinuierlichen Auswertung der Behandlungsergebnisse möglichst vieler Kinderwunschzentren, wie sie das Deutsche IVF-Register leistet, kann dieser Forderung gefolgt werden. Darüber hinaus dient diese Auswertung wissenschaftlichen Erkenntnissen und damit verbunden Verbesserungen der medizinischen Versorgung und Ergebnisse. Aber auch bei der Beratung und letztlich der Entscheidungsfindung der ungewollt kinderlosen Paare sind die Auswertungen des Deutschen IVF-Registers von elementarer Bedeutung.
Mit der Auswertung der Behandlungen und ihrer Ergebnisse aus nahezu allen deutschen Kinderwunschzentren stellt das Deutsches IVF-Register (D·I·R)® einen einzigartigen Datenschatz dar, der mittlerweile fast 2 Millionen Behandlungen und über 300.000 geborene Kinder in Deutschland enthält. Das Deutsche IVF-Register (D·I·R)® ist ein gemeinnütziger Verein.
(*): J Reproduktionsmed Endokrinologie 2020;17(5), D·I·R Jahrbuch 2019, Deutsches IVF-Register e.V. (D·I·R)®, https://www.deutsches-ivf-register.de/jahrbuch.php
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Originalpublikation:
J Reproduktionsmed Endokrinologie 2020;17(5), D·I·R Jahrbuch 2019, Deutsches IVF-Register e.V. (D·I·R)®, https://www.deutsches-ivf-register.de/jahrbuch.php und https://www.kup.at/journals/reproduktionsmedizin/index.html