24. Heidelberger Ernährungsforum - Food Well-Being
Am 13. und 14. November 2020 fand das 24. Heidelberger Ernährungsforum der Dr. Rainer Wild-Stiftung für gesunde Ernährung, erstmalig in hybrider Umsetzung, statt. In bewährter Tradition sah das zweitägige Format ein abwechslungsreiches, interaktives Programm vor.
Die Wahl des Themas fiel in diesem bewegten Jahr mit Food Well-Being auf einen engagierten Ansatz aus der Verhaltensökonomik. Das holistische Modell unternimmt den Versuch, Ernährungsgesundheit in Wohlergehen mit Essen und Trinken umzuformulieren. Mit diesem Perspektivenwechsel bildet Food Well-Being die durch individuelle Biografien geprägte Beziehung zu Essen und Trinken ab.
Zukunftsgerichtetes Wissen und Wissenstransfer fördern, Dialog fordern und innovative Impulse setzen. Kurz vor dem 25. Jubiläum des Heidelberger Ernährungsforums bat die Dr. Rainer Wild-Stiftung am 13. und 14. November 2020 zum 24. Mal ihre 400 angemeldeten Gäste zu einem vielstimmigen, interdisziplinären Austausch. In diesem Jahr jedoch nicht in das Conference Center in Heidelberg, sondern vor die heimischen Bildschirme. In bewährter Tradition sah das zweitägige Format ein abwechslungsreiches Programm vor, mit Impulsen, Diskussionsrunden sowie zahlreichen Gelegenheiten miteinander und mit den Expert*innen ins Gespräch zu kommen. Einen besonderen Akzent setzte die Abendveranstaltung „Dinner-Talk“, bei dem die Teilnehmer*innen statt eines Menüs, exklusive Einblicke in die aktuelle Lage der Gastronomie genießen durften.
„Nach einer erfolgreichen Trilogie zu den Makronährstoffen, laden wir sie mit Food Well-Being und dem diesjährigen Heidelberger Ernährungsforum auf die Weiterreise mit uns, in die Wirtschaftswissenschaft ein.“, begrüßt Dr. Silke Lichtenstein, Geschäftsführerin und wissenschaftliche Leiterin der Dr. Rainer Wild-Stiftung im Namen des Stifters die zugeschalteten Teilnehmer*innen.
Die Wahl des Themas fiel in diesem bewegten Jahr mit Food Well-Being auf einen engagierten Ansatz aus der Verhaltensökonomik. Das holistische Modell unternimmt den Versuch, Ernährungsgesundheit in Wohlergehen mit Essen und Trinken umzuformulieren. Mit diesem Perspektivenwechsel bildet Food Well-Being die durch individuelle Biografien geprägte Beziehung zu Essen und Trinken ab.
Ausgangspunkt war unter anderem die Parallele zum Leitbild der Dr. Rainer Wild-Stiftung für gesunde Ernährung. Mit einem veränderlichen, auf das Individuum ausgerichteten Verständnis, entspricht Food Well-Being diesem Gedanken.
Den Diskurs über aktuelle Fragestellungen im Verlauf der Tagung anzustoßen, war eines der Ziele der Dr. Rainer Wild-Stiftung. Zum einen, ob sich Food Well-Being nutzen lässt, in Fachkreisen etablierte Ansätze in ein theoretisches Konstrukt zusammenzufassen, mit dessen Hilfe sich diese zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung machen lassen. Oder zum anderen, ob die Perspektive von Food Well-Being hilft, Verbraucher*innen das Dilemma „Wunsch-Wirklichkeits-Lücke“ zu erleichtern. Diese ergibt sich aus den teils unvereinbaren Ansprüchen an zeitgemäße, gesunde beziehungsweise nachhaltige Ernährungsstile. Viele empfinden diese Konflikte als Druck, der letztlich Resignation und Beibehaltung ungünstiger Verhaltensweisen forcieren kann.
„Wir werden gemeinsam betrachten, ob und wie Food Well-Being zeitgemäße und verbrauchergerechte Impulse liefern kann hin zu mehr Wohlergehen mit Essen und Trinken.“, so Lichtenstein.
Die Rolle von Essen und Trinken für das allgemeine Wohlergehen
Dem Konzept Food Well-Being gelingt es, den Paradigmenwechsel von einer rein biomedizinisch geprägten Auffassung von gesunden Ernährung, als Ernährungswohlergehen in umfassender Perspektive abzubilden. Essen und Trinken wird in einem breiteren Kontext betrachtet und deren Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche anerkannt. Dieses, zuerst 2011 definierte Konzept, wurde von Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen aufgegriffen und von Dr. Florentine Frentz (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BzGA) in ihrer Dissertation zu einem Bild zusammengefügt: Food Well-Being als eine subjektive und objektive Beurteilung der physischen, emotionalen, sozialen, intellektuellen, spirituellen und selbstbestimmten Beziehung zur Ernährung, zu Essen und Trinken.
Dr. Frentz beschreibt Food Well-Being mit der Metapher eines Rucksackes, der sich im Verlauf einer individuellen Biografie mehr oder weniger füllt. Dabei wird Food Well-Being durch zahlreiche Faktoren und Prozesse beeinflusst. In der heutigen Zeit prägen uns verstärkt Ressourcen, wie Budget, Zeit oder Einkaufsmöglichkeiten.
Am Rand dieses Weges wirken Erfahrungen und Ereignisse auf das Individuum ein. Jede neue Erfahrung und jedes neue Ereignis trägt zum ernährungsbezogenen Lebenslauf einer Person bei und prägt Food Well-Being in all seinen Dimensionen: der physischen, emotionalen, sozialen, intellektuellen, spirituellen und selbstbestimmten. Bei den sozialen Einflüssen sind es vor allem Elternhaus und andere Bezugspersonen im Lebensumfeld, gleichwohl ist Essen und Trinken sowohl Statussymbol als auch Teil von sozialen Ritualen und Traditionen, etwa um Zugehörigkeit oder Abgrenzung zum Ausdruck zu bringen. Prägend in der ernährungsbezogenen Lebenswelt sind einerseits das Nahrungsüberangebot als auch die Fülle an Informationen und Kommunikation über Essen und Trinken, zunehmend auch in den Sozialen Medien. Es handelt sich also um einen interaktiven Prozess, der ständig im Wandel ist. Mit dem Bild des Rucksackes wird klar, dass Food Well-Being den Menschen „nähren“ oder auch belasten kann. Die ernährungsbezogene Resilienz ist in diesem Sinne eine wichtige Ressource für Gesundheit.
Für ein hohes Food Well-Being braucht es nach Frentz einen Einstellungswandel, eine das Food Well-Being stärkende Lebenswelt und Bemühungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und der Politik. „Wir können viel erreichen, wenn wir alle daran arbeiten und uns weiterentwickeln.“, äußert Frentz zuversichtlich.
Vom Informations-Verteiler zum Veränderungs-Ermöglicher
„Aspekte des Food Well-Being sollten wir stärker auch für die Ernährungskommunikation nutzen“, appelliert Dr. Margareta Büning-Fesel, Leiterin des Bundeszentrums für Ernährung (BZfE) in ihrem Impulsvortrag. Denn auch hier seien ein Perspektivwechsel und eine ganzheitliche Betrachtung erforderlich. Weg vom „korrekten Ernährungsverhalten“ hin zur Stärkung von Selbstbestimmung, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.
Dabei muss die Motivation von den Menschen selbst kommen und alle Essaktivitäten frei gewählt sein – unter Berücksichtigung der Werte des Einzelnen und seiner persönlichen Situation. Denn Menschen verändern ihr Verhalten nur dann, wenn sie es für bedeutsam halten und es auch möchten. Ernährungskommunikation kann hierzu einen Beitrag leisten, indem sie das gewünschte Verhalten mit positiven Attributen verbindet. Ein Beispiel ist der niederländische Nationale Aktionsplan, der mit Maßnahmen unter dem Motto "Entscheide dich für Farben" den Konsum von Obst und Gemüse stimulieren konnte. Das vom BZfE und der Europa-Universität Flensburg (EUF) entwickelte Kompetenzmodell „Food & Move Literacy“ zeigt exemplarisch auf, welche Fähigkeiten Menschen benötigen, um ihren Ernährungs- und Bewegungsalltag selbstbestimmt, verantwortungsbewusst und gesundheitsfördernd zu gestalten. Gerade die Themen Essen, Trinken und Bewegung eignen sich, alle Sinne anzusprechen.
Angesichts des umfangreichen Lebensmittelangebots, einer Vielzahl oft widersprüchlicher Diäten, Ernährungstrends und Aussagen sind Orientierung und Hilfestellung erforderlich. Aber die Wissensvermittlung allein hat keinen Einfluss auf das Ernährungshandeln. Nötig ist „die partizipative Begleitung hin zu einer genussvollen und gesundheitsförderlichen Ernährung“, so Büning-Fesel: Komplexe Informationen in einfache, korrekte und relevante Botschaften übersetzen, Menschen motivieren, etwas zu verändern und dabei zu bleiben und sie begleiten, die für sie passende Ess-Entscheidungen zu treffen. Im Setting Schule bedeutet das, die Essensumgebung als wesentlichen Teil der Ernährungsbildung zu verstehen und sie als Erlebnis zu gestalten, als ein Ort, an dem „Kinder nicht nur gut, sondern auch gerne essen“. Und Food Well-Being kann hier für Lehrer*innen und Erzieher*innen weitere Impulse bieten, durch ihre Haltung und Vermittlung von Werten einen Beitrag zu leisten.
Mit einem personenzentrierten Ansatz soll salutogene Ernährungskommunikation Wissen übersetzen und Handeln unterstützen. Voraussetzung ist, den Menschen als Expert*in des Alltags ernst zu nehmen, der als Mitglied eines Haushalts und als soziales Wesen handelt und Werte schafft. Gelingen kann dies im Kontext von Verhältnisprävention, mit dem Fokus auf die Stärkung von Initiativen und Gruppen und einem Ansatz auf vielen Ebenen. „Nicht zuletzt muss salutogene Ernährungskommunikation gerahmt werden von einer gesundheits-förderlichen Gesamt- und Umweltpolitik.“, schließt Büning-Fesel.
Für gute, saubere und faire Lebensmittel
Seit mehr als 20 Jahren setzt sich Slow Food e.V. auch in Deutschland für ein sozial und ökologisch verantwortungsvolles Lebensmittelsystem ein. Es geht darum, Lebensmitteln die Wertschätzung entgegenzubringen, die „Mitteln zum Leben“ angemessen ist. Zentrale Themen sind Genuss, der Schutz von biokultureller Vielfalt und Tierwohl, aber auch der Erhalt handwerklicher Traditionen und Kulturlandschaften. In der gelebten Ernährungskultur und dem Erhalt kulinarischer Kulturen sieht das Vorstandsmitglied Lea Leimann Schnittmengen mit Food Well-Being: „Ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis und Planetengesundheit bilden auch für uns die Basis.“ „Gut, sauber und fair“ mit dieser Philosophie beschreibt Slow Food, wie Lebensmittel sein sollen, damit es Mensch und Planet wohlergeht. Slow Food ist dabei weit mehr als Ernährung. Leimann schlussfolgert: „Gutes Essen kann verbinden: Kulturen, Generationen, Erzeuger und Konsumenten und so zum Wohlergehen beitragen.“
Ansatzpunkte für Food Waste-Reduktion
Inwieweit das Konzept Food Well-Being dazu beitragen kann, Food Waste zu reduzieren, schildert Dr. Benedikt Jahnke, Fachgebiet Agrar- und Lebensmittelmarketing der Universität Kassel. Zunächst kann Food Waste Food Well-Being durch das Gefühl, gesellschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können, negativ beeinflussen. Denn die Norm, Lebensmittelverschwendung zu minimieren und die Unsicherheit in der Umsetzung sorgt bei Konsument*innen, Handel und Produzent*innen für Gewissenskonflikte und Stress. Ideen zur Verbesserung gibt es viele. Während Aufklärungskampagnen zur Lagerung, zum Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) oder Ernährungsbildung in Kindergarten, Schule oder Handel häufig keine Verhaltensänderung herbeiführen, können praktische Erfahrungen, wie das Führen eines Tagebuchs oder ein Blick in Mülltonnen „ein einprägsames Erlebnis sein, das mehr bewirkt als eine Broschüre.“ Weitere Ansatzpunkte seien unter anderem die Veränderung gesetzlicher Normen für Obst und Gemüse, eine ansprechende Präsentation von MHD-Produkten im Supermarkt sowie Lebensmittelreste und nicht normgerechtes Obst und Gemüse verfügbar zu machen. Preisreduktionen müssten nachvollziehbar gemacht werden, da der Preis meist als Qualitätsindikator betrachtet werde. Diese und viele weitere Maßnahmen zur Food Waste-Reduktion lassen sich aus dem Food Well-Being in kleinen Bereichen ableiten. „Aber großangelegte Änderungen fehlen“, schließt Jahnke.
Vernetzung und praktisches Tun
Die Frage, wie wir möglichst viele Menschen erreichen können, kam in den Diskussionen des Heidelberger Ernährungsforums immer wieder auf. In der Runde am ersten Tag war man sich einig: Soziale Medien spielen hier eine zentrale Rolle, zudem sie ein Gemeinschaftsgefühl stiften. Der Wandel vom Wissen zu Handeln erfordere praktisches Tun und Erleben. Wir brauchen zudem Vernetzung – sowohl in Forschung als auch in der Praxis: „Agieren auf Augenhöhe und voneinander lernen.“, benennt es Büning-Fesel. Frentz ergänzt: „Viele Einzelmaßnahmen, geschickt vernetzt, können viel erreichen.“ Abschließend plädiert das Plenum für ein ausgewogenes Verhältnis von Regelungen und Selbstbestimmtheit „Politik ist wichtig, aber auch von unten, von rechts und von links müssen Veränderungen kommen.“
Die Gastronomie in der Krise: Kreativ und innovativ
„Da wir sie in diesem Jahr leider nicht bekochen lassen können, möchten wir sie im Dinner-Talk mit dem Gastgewerbe zumindest ins Gespräch bringen.“, leitet Silke Lichtenstein den Abend ein. Egmont Merté, Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Gemeinschaftsgastronomie und Leiter der Gastronomie des Headquarters der Allianz AG München, berichtet live aus dem „Mom-&-Pop-Store“ – einem Teil des innovativen Konzepts der Mitarbeiterrestaurants am Standort. Das Konzept des Well-Being werde trotz eingeschränktem Betrieb in den letzten Monaten fortgesetzt und durch neu entwickelte Konzepte für die Mitarbeiter*innen im Home-Office ergänzt. „Ente to go“ ersetzt das Weihnachtsessen, Online-Kochkurse mit den Küchenchef*innen ermöglichen Austausch und Kontakt. Ein Riesenerfolg sind die kulinarischen Weihnachtsgeschenke der Führungskräfte an ihre Mitarbeiter*innen. Auch die Genuss-Box, die exklusiv von den Teilnehmer*innen des Ernährungsforums für den Abend bestellt werden konnte, ist solch eine kreative Idee.
Von einem Wandel des Kochberufs hin zum Konzeptentwickelnden mit anspruchsvoller und interdisziplinärer Ausrichtung geht Sascha Hölzle von der Deutschen Hotelakademie aus. Er sieht eine zunehmende Bereitschaft der Branche, in Mitarbeiter*innen zu investieren, sie zu qualifizieren und weiterzubilden. Hierzu sind die bisherigen Blended Learning-Konzepte der Hotelakademie auf die aktuellen Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst und weiterentwickelt worden. Die Gastronomie – von jeher flexibel – reagiere mit kreativen Ideen und habe durch weitere Digitalisierung, wie die Bestellabwicklung über QR-Codes, nochmals einen Schub bekommen. Dies werde dazu führen, dass Gastronom*innen zukünftig mehr Zeit für Gäste und Service haben. Hölzle blickt zuversichtlich in die Zukunft: „Der Beruf des Kochs entwickelt sich weiter und wird an Attraktivität gewinnen.“
Der Mega-Trend Gesundheit beeinflusst unsere Esskultur wirksam
Magistra Hanni Rützler, Gründerin und Leiterin des futurefoodstudio in Wien, führte in ihrer Key Note am zweiten Tag des Ernährungsforums in die Zukunft: „Esskulturen verändern sich aktuell radikal und differenzieren sich aus wie nie zuvor.“, so die Food Trend-Forscherin. Denn „Covid-19 hat unser Leben dramatisch verändert, auch, wie wir essen und was wir wertschätzen. Wir spüren, was uns wichtig ist.“
So sind Food-Trends die Antworten auf aktuelle Probleme und spiegeln kulturspezifische Sehnsüchte, Wünsche und Bedürfnisse wieder. Die 40 aktuellen Food-Trends verortet Rützler in sieben Clustern: Qualität, Nachhaltigkeit, Glokal (als Kombination aus global und lokal) Genuss, Beyond Food, Gesundheit und Alltag. In den Foodtrend-Clustern Alltag und Gesundheit zeichnet sich deutlich die Entwicklung zu einem holistischeren, individuelleren und salutogenetischen Ansatz ab.
Gesundheit ist ein besonders robuster Megatrend, der in diesen Krisenzeiten weiter an Bedeutung gewinnt und auch unsere Esskultur beeinflusst. Demnach fokussieren sich viele Menschen auf präventive Gesichtspunkte der Ernährung (Forced Health) und kaufen verstärkt Nahrungsergänzungsmittel und gesundheitsförderliche Lebensmittel. Mit dem Trend zu Soft Health werden Ausgewogenheit, Vielfalt und das Bevorzugen von Gemüse, Hülsenfrüchten und Getreideprodukten in den Vordergrund gestellt. Die Weiterentwicklung dieses Trends zu einem gesunden, kulinarischen Lebensstil, der nicht auf Verboten und Verzicht beruht, sondern zudem mit Freude am sinnlichen Genuss verbunden ist, bezeichnet der Trend Healthy Hedonism. „Dieser passt besonders gut zum Konzept des Food Well-Being.“ sagt Rützler.
Der Trend zum Plant-Based Food wird weiter wachsen. Die mit Vegetarismus und Veganismus begonnene kulinarische Aufwertung von pflanzlicher Nahrung wird angetrieben durch wachsendes Gesundheits- und Umweltbewusstsein und den Wandel ethischer Normen und Werte. Hanni Rützler: „Flexitarisch essen hat das Zeug zum Mainstream. Corona steigert nicht die Lust auf Fleisch, sondern die auf Obst und Gemüse.“
Im Cluster Alltag hat insbesondere der Trend Convenience 3.0 an Fahrt gewonnen. Das Kochen und Essen zu Hause geben uns Struktur und Halt in der Krise. Und: Convenience 3.0 bedeutet nicht mehr schnell und einfach, sondern ist heute flexibel, individuell und unterstützend. Dazu stehen immer mehr Lösungen zur Verfügung, Rezept-Shopping-Services, Koch- und Rezept-Apps sowie Lieferdienste und kreative Gastronom*innen liefern vorbereitete Zutaten oder Gerichte. So werden sich sog. Geisterküchen – Küchen, in denen gekocht, aber nicht Gäste bewirtet werden – von der Überlebensstrategie in Corona-Zeiten zu Gastronomie-Konzepten der Zukunft entwickeln, langfristig und grundlegend. „Wenn die Qualität der Speisen überzeugt, haben Ghost Kitchens die Chance, Teil der alltäglichen Esskultur zu werden.“
Das bewusste, gestaltende Zusammenwachsen der Bereiche Gesundheit und Nachhaltigkeit hin zum Food Well-Being zeichnet sich in Teilen der Gesellschaft ab. Viele Menschen sind derzeit auf der Suche und treffen auf verwirrende Informationen zu Ernährung und Gesundheit. In unserem Wissenszeitalter, in dem jeder sein eigener Experte ist, wird es zukünftig darum gehen, gemeinsam Erkenntnisse hervorzubringen und nicht Gegensätze zu inszenieren. Rützler appelliert: „Dazu braucht es Offenheit, Wertschätzung und Dialog.“
Expertenpanel und Fishbowl zu Gesundheit und Nachhaltigkeit
In ihrem Eingangsstatement betont Annegret Flothow, Professorin für Psychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, die Bedeutung des Settings Betrieb zur Stärkung persönlicher Gesundheitskompetenzen und gesundheitsförderlicher Lebenswelten. Im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung können über 40 Millionen Arbeitnehmer*innen in Deutschland erreicht werden, auch vulnerable und vernachlässigte Zielgruppen mit ungesundem Lebensstil. „Die Betriebsverpflegung ist wie ein Schaufenster in die Kultur des Unternehmens“, ergänzt Hanni Rützler und betont die Lebensqualität am Arbeitsplatz als zentralen Faktor. Der Jurist Prof. Dr. Kai Purnhagen, Universität Bayreuth weist auf politische und juristische Rahmenbedingungen hin. Zum Beispiel sei Gesundheit nur eines von insgesamt 17 globalen Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen, Gesundheitspolitik werde aus seiner Sicht der Nachhaltigkeitspolitik untergeordnet, was zu Zielkonflikten führen kann. Zudem fordert er eine allgemeingültige Deutung und Definition des Begriffs Nachhaltigkeit.
Wie kommunizieren wir das ganzheitliche Konzept Food Well-Being am besten? Eine der zentralen Fragen der sich anschließenden Fishbowl-Diskussion, zu der sich die Teilnehmer*innen live per Video oder Ton zuschalten konnten. Dabei zeigt sich: junge Wissenschaftler*innen, wie auch in der Beratungspraxis Tätige sehen hier eine große Herausforderung. Professorin Flothow benennt auf Zielgruppen heruntergebrochene Konzepte, die Motivation und Fragen berücksichtigen, wie Gesundheit bei Älteren und Nachhaltigkeit bei Jüngeren. Für Professor Purnhagen kann Nudging der richtige Weg sein. Gefahr sieht er jedoch beim „Greenwashing“: Gesundheit oder Nachhaltigkeit werden kommuniziert, ohne konkrete Inhalte oder Konzepte zu etablieren. Da unsere Lebens- und Arbeitswelt immer digitaler wird, wünscht und benötigt der Mensch reale Welten. Und deshalb sollte Food Well-Being hier platziert werden, ergänzt durch Informationen aus der digitalen Welt, meint Hanni Rützler: „Man kann Menschen begeistern.“
Zum Abschluss resümiert Silke Lichtenstein im Namen der Dr. Rainer Wild-Stiftung das Ergebnis entlang der eingangs gestellten Leitfragen. Deutlich wurde, dass Food Well-Being mit vielen bereits anerkannten Sichtweisen und Methoden im umfassenden Verständnis von Gesundheit übereinstimmt. Größte Herausforderungen werden die Vielfalt von Lebensstilen und unterschiedlichen Auffassungen von Gesundheit oder gesunder Ernährung in Fachkreisen und der Gesellschaft sein. Zunehmend verfügbares Wissen und Multioptionalität im Handeln erschweren Verbraucher*innen zunehmend mehr das Erfüllen immer höherer gesellschaftlicher Ansprüche an richtiges oder gesunden Essen. Für alle, die beruflich mit dem Thema Essen und Trinken befasst sind, ergibt sich hier einmal mehr die Notwendigkeit, Ernährung in ihrer Komplexität anzuerkennen. Im holistischen Sinne von Food Well-Being gilt es, im interdisziplinären Miteinander nicht eine einzige Formel, sondern gezielte Hilfestellungen für das Food Well-Being verschiedener Gruppen zu entwickeln.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Silke Lichtenstein
Dr. Rainer Wild-Stiftung
Mittelgewannweg 10
69123 Heidelberg
Tel.: 06221 7511 200
Mail: info@gesunde-ernaehrung.org
Weitere Informationen:
https://www.gesunde-ernaehrung.org/Heidelberger-ernaehrungsforum.html