‚Solidarität‘ in Zeiten der Pandemie – Potenziale für eine neue Politik der Arbeit?
Seit dem ersten Lockdown zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie sind acht Monate vergangen. Wann der zweite endet, ist ungewiss. Zwar ist die Zustimmung zu den politisch veranlassten Maßnahmen weiterhin hoch, doch Unsicherheit und Spannungen nehmen zu. Um Zusammenhalt zu wahren, wird ‚Solidarität‘ gefordert. Ein großes ‚Wir‘, das Unternehmen und Beschäftigte, Chefarzt und Krankenpflegerin, Designerin im Homeoffice und ihre migrantische Putzfrau einschließt – das kann nicht funktionieren. Aber liegen in der Bekämpfung der Corona-Krise auch Potenziale für eine neue Politik der Arbeit? Dieser Frage gehen Nicole Mayer-Ahuja und Richard Detje in einem soeben erschienenen Beitrag nach.
Lange galt Solidarität als aus der Zeit gefallenes Wort. Der Frühzeit der Gewerkschaftsbewegung entlehnt, gelegentlich in Arbeitskonflikten propagandistisch aufgeladen, schien es im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vollends obsolet geworden zu sein. „Es gibt keine Gesellschaft“, mit dieser Kurzformel hatte die britische Premierministerin Margaret Thatcher die ‚neoliberale Revolution‘ begründet. Dass die Forderung nach Solidarität im Zuge der Corona-Krise mit Macht zurückgekehrt ist, verweist auf eine Erschütterung der Grundfesten einer jahrzehntelangen Politik der „Entfesselung der Märkte“. Die Außerkraftsetzung der Politik der ‚schwarzen Null‘, massive staatliche Unterstützungsprogramme, Vorrang für Beschäftigungssicherung, zumindest temporäre Einschränkung des Hartz-IV-Sanktionsregimes und andere Maßnahmen eröffnen zumindest Möglichkeitsräume für eine neue Politik der Arbeit.
„Eine solidarische Politik der Arbeit sollte trotz erwartbar leerer öffentlicher Kassen die seit Corona weiter verbreitete Einsicht in die ‚Systemrelevanz‘ wohlfahrtsstaatlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen nutzen. Gegen den Widerstand derer, die an Solidarität appellieren, aber faktisch vor allem für die Entlastung von Unternehmen sowie die Privatisierung von Reproduktionsrisiken und kosten eintreten“, betonen die Autor*innen. Die Corona-Krise habe die Erkenntnis gefördert, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem die reibungslose Reproduktion von Arbeitskraft voraussetze – und zur Sicherung von Gesundheit, Hygiene, Erziehung, Ernährung usw. auf Beschäftigtengruppen angewiesen sei, die oft unter prekären Bedingungen arbeiten. „Die offenkundige Zentralität von Arbeit in der Corona-Krise könnte ein Ausgangspunkt dafür sein, Solidarität umfassender zu denken – über professionelle, sektorale und auch nationale Einhegungen hinaus. Wenn es letztlich die Arbeit selbst ist, der Systemrelevanz zukommt, stellt sich die Frage nach demokratischer Entscheidung über das ‚Wie‘, ‚Was‘ und ‚Wofür‘ von Produktion und Dienstleistungen mit neuer Dringlichkeit“, konstatiert das Autorenteam.
Wie Pandemiebekämpfung eben nicht in die Falle wachsender sozialer Spaltung, Prekarisierung und einseitig unternehmensgesteuerter Flexibilisierung der Arbeit läuft, sondern mit humanen, sozial-ökologischen Transformationsfortschritten verschränkt werden kann, diskutieren Mayer-Ahuja und Detje an Fragen der Generationengerechtigkeit, von Arbeitszeitpolitik, Kurzarbeit und Homeoffice. Ihr Fazit: „Solidarität ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Mit wem man sich solidarisch erklärt, wessen Interessen man als die eigenen erkennt, erweist und verändert sich in sozialen Auseinandersetzungen. Deshalb könnten die aktuellen Erschütterungen die Verschiebung von Grenzen und einen neuen Aufbruch in Sachen solidarischer Politik erleichtern. Auf das Virus ist dabei kein Verlass – ohne das möglichst gut organisierte Ringen um eine neue Politik der Arbeit geht es nicht.“
Veröffentlichung:
Nicole Mayer-Ahuja, Richard Detje: „Solidarität“ in Zeiten der Pandemie: Potenziale für eine neue Politik der Arbeit? In: WSI-Mitteilungen, Sonderheft 6-2020: Die Corona-Pandemie: zwischen Krisenintervention und Transformation, S. 493-500.
Prof. Dr. Nicole-Mayer Ahuja ist Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) e. V. und Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen, Wirtschaft an der Georg-August-Universität Göttingen.
Richard Detje ist Sozialwissenschaftler und Lektor beim VSA-Verlag. Zudem ist er Redakteur der Zeitschrift „Sozialismus“ sowie Geschäftsführer der Wissenschaftlichen Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik e.V. (WissenTransfer).
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Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja
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Richard Detje
Wissenschaftlichen Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik e.V
Tel.: +49 551 52205-0
E-Mail: buero@wissentransfer.info
Originalpublikation:
Nicole Mayer-Ahuja, Richard Detje: „Solidarität“ in Zeiten der Pandemie: Potenziale für eine neue Politik der Arbeit? In: WSI-Mitteilungen, Sonderheft 6-2020: Die Corona-Pandemie: zwischen Krisenintervention und Transformation, S. 493-500.
https://www.wsi.de/de/wsi-mitteilungen-solidaritaet-in-zeiten-der-pandemie-potenziale-fuer-eine-neue-politik-der-arbeit-28629.htm
Weitere Informationen:
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