Präklinische Versorgung von Patienten mit SHT und Polytrauma: Der „Teledoktor“
Was können sogenannte „Teledoktors“ leisten? In welchen Fällen ist der Einsatz in der präklinischen Versorgung von Patienten mit SHT und Polytrauma sinnvoll? Zudem befindet sich das Schädel-Hirn-Trauma im demographischen Wandel. Diese aktuellen Themen wurden bei der ANIM 2021 vorgestellt – bei der Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin. Die gemeinsame Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG) fand vom 21. – 23.01.2021 zum ersten Mal digital statt.
Der Einblick in die fernmedizinische Einbindung von Rettungsmitteln in der akutmedizinischen Versorgung, den Dr. med. Jan Purrucker, Heidelberg, während der ANIM 2021 bot, zeigte einen spannenden Blick in eine vielleicht nicht allzu ferne Zukunft. Der Einsatz eines Telenotarztes (TNA), eventuell auch die präklinische Einbindung eines Telefacharztes könne und solle den Notarzt nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen, betonte Purrucker. Vor dem Hintergrund der drastisch gestiegenen Zahl von Notfallereignissen in den vergangenen zehn Jahren und zugleich einem Rückgang des Anteils der arztbesetzten Rettungseinsätze wurde ein Telenotarztkonzept entwickelt, welches derzeit in einigen Modellregionen in Bayern, um Aachen oder in Mecklenburg-Vorpommern getestet wird. Ziel ist es, die arztfreie Zeit präklinisch zu verkürzen, um die Patienten auf dem Weg in die Notaufnahme noch besser zu versorgen. Dafür braucht es – verkürzt gesagt – nicht mehr als eine drehbare Kamera im RTW und einen mit mehreren Bildschirmen ausgestatteten Arbeitsplatz, an dem der Telenotarzt auf diverse Daten zugleich digital zugreifen, Patientendaten integrieren, nebenher Guidelines oder Algorhithmen recherchieren kann. Aber ist der Arzt am fernen Bildschirm wirklich der Richtige für SHT und Polytrauma? Purrucker erläuterte die Vorteile des Konzepts, etwa die hohe Verfügbarkeit von Fachärzten auch parallel, dezentral und überregional. So wäre es künftig denkbar, dass ein Notfall in Flensburg eines Tages von einem TNA Provider in Freiburg behandelt wird. Auch mit der größeren Übersicht aus der Ferne oder präzisen Kenntnissen innerklinischer Abläufe punktet der Telenotarzt. Andererseits würden unter Umständen Manpower, diagnostische Skills und Notfalltechniken am Einsatzort fehlen, wenn der Notarzt nicht mit vor Ort ist.
Gleichwohl sind verschiedene Szenarien denkbar und durchaus vorteilhaft: So könne der Telenotarzt Zeit überbrücken, wenn der Notarzt nicht zeitgleich mit dem RTW eintrifft. Auch konsiliarisch könne der TNA den Kollegen vor Ort unterstützen. So könne die Verfügbarkeit der „Ressource Notarzt“ erhöht werden – bei jenen Einsätzen, bei denen er auch wirklich gebraucht wird. NEF/NAW-Standorte ließen sich so aber nicht reduzieren, mahnt Purrucker. Wenn überhaupt, dann nur vereinzelt in urbanen Regionen mit kurzen Wegen, wenn ein Telenotarztkonzept flächendeckend implementiert wurde. Keinesfalls aber im ländlichen Raum, wo so nur längere Anfahrtswege entstehen würden. Ein weiter Weg zum TNA-Konzept scheint es nicht zu sein: "Schon heute sind wir mit Tablets und Smartphones überhaupt nicht mehr auf fest installierte Kameras angewiesen, senden und empfangen Daten, Fotos und bald hoffentlich auch Videos vom Rettungsteam in die Klinik", schildert Purrucker Erfahrungen mit Telemedizin am Uniklinikum Heidelberg. Technische Innovationen werden diesen Austausch begünstigen. Er zeigte sich überzeugt, dass die Datenbrille Rettungsteam und Telenotarzt weiter zusammenrücken lassen wird.
Wenn die Ausnahme zur Regel wird – Schädel-Hirn-Trauma im demographischen Wandel
Dass das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) längst nicht mehr junge Menschen betrifft, wurde im Rahmen der Sitzung zum „Schädel-Hirn-Trauma bei älteren Patienten – von der Ausnahme zum Regelfall“ deutlich. Dr. med. Alexander Younsi, Heidelberg, beschrieb das SHT als Erkrankung im demographischen Wandel: Der Anteil der Älteren in der Bevölkerung steigt seit Jahren. In der Folge ist bei den über 65-Jährigen SHT-Patienten ein deutlicher Zuwachs zu verzeichnen. Auch die Ursachen haben sich gewandelt. Stellte noch vor 30 Jahren der Verkehrsunfall die häufigste Ursache für ein Schädel-Hirn-Trauma mit tödlichen Folgen dar, sind es heute überwiegend häusliche Stürze, die zu Verletzungen führen. Und weil die Alterung der Bevölkerung weiter voranschreitet, ist die Prognose leicht gestellt: „Das SHT bei Älteren ist im Kommen und wird uns beschäftigen“, so Younsi. Zugleich bringe die Behandlung beim älteren oder gebrechlichen, häufig vorerkrankten Patienten neue Herausforderungen mit sich. Die Einnahme von Blutverdünnern erhöhe die Inzidenz für Blutungen und so auch bei leichten SHTs das Risiko zu versterben. Vorerkrankungen verschlechtern das Behandlungsergebnis und machten häufiger erneute Eingriffe binnen 30 Tagen notwendig. Gleichwohl, betonte Younsi, stelle das SHT beim älteren Patienten kein schicksalhaftes Urteil dar. Die Behandlung müsse angepasst werden.
Welche Faktoren die Therapie beim betagten Patienten erschweren, verdeutlichte Dr. med. Nicole Terpolilli, München, in ihrem Vortrag: die eingeschränkte Aussagekraft von Prognosescores etwa oder pathophysiologische Faktoren, die die Wirksamkeit etablierter Behandlungsstrategien vermindern. Generell hätten ältere Patienten ein schlechteres Outcome auch bei „leichtem“ SHT, müssten länger im Krankenhaus behandelt werden, verkrafteten aggressive wie invasive Therapien schlechter als junge und erhielten seltener eine Neurorehabilitation. Auch zeigten Rehamaßnahmen weniger Erfolg. Die Letalität erhöhe sich – je nach Studie – um das Zwei- bis Fünffache, so Terpolilli, und das Risiko steige bei den über 75-Jährigen im Vergleich zu den 65- bis 74-Jährigen noch einmal signifikant an. Dass Studien Patienten über 60 oder 65 Jahre nicht mehr einschließen, verstärkt die Herausforderung der Behandlungsstrategie: Es gibt keine Daten, auf die man sich stützen könnte. Damit das schlechte Outcome nicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird, bedürfte es unter anderem einer individualisierten Prognose-Einschätzung, einer zügigen Diagnostik – aber auch einer besseren Berücksichtigung in künftigen Studien.
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