Mathematik in der Pandemie - Hilfestellungen in der Krise durch die Berliner Mathematik
Wie Modellierungen und Simulationen von zwei Berliner Forschungsgruppen helfen, Zukunftsprognosen vorauszusagen und Entscheidungsträger zu unterstützen. Der Ansatz ist der gleiche, der Unterschied liegt in den Dimensionen. Die Arbeitsgruppe um Edda Klipp von der Humboldt-Universität konzentriert sich mit komplexen Modellen auf eine Kleinstadt; die Teams um Kai Nagel von der TU Berlin sowie Christof Schütte und Tim Conrad vom Zuse-Institut und der FU Berlin beziehen sich auf die Großstadt Berlin und Mobilfunkauswertungen. Der Standort Berlin ist weltweit bekannt für Angewandte Mathematik. Dafür steht u.a. auch der Exzellenzcluster MATH+, an dem die gesamte Berliner Mathematik beteiligt ist.
Was passiert, wenn wir alle zu Hause bleiben, wenn wir nur zur Arbeit gehen, die Schulen und Kindergärten wieder öffnen? Alles Fragen, die uns seit einem Jahr umtreiben und deren Auswirkungen wir auch täglich in den Medien verfolgen können. Diese Fragen fließen in die mathematischen Berechnungen von zwei großen Berliner Forschungsgruppen ein. Die dabei verwendeten Berechnungsmodelle beruhen auf der gleichen Methode: der agentenbasierten Modellierung. Unter Agenten versteht man hierbei virtuelle Avatare die sich in einer Computersimulation auf Basis von gegebenen Regeln bewegen und Aktivitäten ausüben. So betont Björn Goldenbogen von der Klipp-Gruppe: „Realistische Aussagen kann nur ein agentenbasiertes Modell treffen, da es die Infektionsdynamik über die Mensch-zu-Mensch-Interaktion darstellen kann.“
Die Arbeitsgruppe um Edda Klipp von der Humboldt-Universität konzentriert sich auf die Kleinstadt Gangelt, die mit 11.000 Einwohnern in der Nähe von Heinsberg liegt. Grundlagen ihres Modells sind die Agenten in ihrer typischen Wohnsituation und mit ihren typischen Tagesabläufen, wie sie in Deutschland üblich sind. Daraus entstand ein sehr komplexes Modell mit detaillierten Interaktionsmustern. Die dafür verwendeten Daten sind im Internet frei zugänglich, wie über Open Street Map oder von Daten des Robert Koch-Instituts (RKI). Wer sich hinter den Agenten verbirgt, bleibt allerdings anonym und eigene Daten wurden nicht erhoben.
Agentenbasierte Modelle können dabei über verschiedene Szenarien die Auswirkungen der Kontrollmaßnahmen und der Impfstrategie abbilden. Wichtige Ausgangsfragen sind: Was verhindert eine Infektionswelle am besten? Welche Faktoren tragen in welchem Maße zur Infektionsdynamik bei, wie etwa das Öffnen der Gastronomie? Wie wirken sich nicht-pharmazeutische Gegenmaßnahmen, wie zum Beispiel Schließungen von Schulen und Maskentragen, auf die Infektionsdynamik aus? Die unterschiedlichen Szenarien für den Lockdown werden unter diesen Fragestellungen simuliert und aus den so im Modell entstandenen Bewegungsmustern und Interaktionen können Rückschlüsse auf die Realität gezogen werden. Interessant war für die Klipp-Gruppe beispielsweise zu sehen, wie die Infektionswelle in die Altersgruppen wandert. Am Anfang stecken sich laut ihrem Modell die Kinder und jungen Menschen an. Die Älteren werden zuletzt infiziert und tragen kaum zum Treiben der Pandemie bei, da ihre Bewegungsmuster nicht sehr aktiv sind und sie weniger mit jungen Menschen zusammenkommen. Was die Frage nach einem Lockdown angeht, war laut Edda Klipp das wichtigste Ergebnis die sogenannte Bi-Modalität: „Beschließt man einen Lockdown, sollte man ihn erstens möglich früh beginnen und lange genug durchhalten.“
Als die Thematik Impfstoff aufkam, versuchte die Klipp-Gruppe, auch die Impfstrategien und ihre Auswirkungen am Beispiel von Gangelt vorherzusagen. Was passiert, wenn man nach der natürlichen Infektionswelle impft, also zuerst die am schnellsten und stärksten infizierte Gruppe? Macht es einen Unterschied, ob die Schulen geöffnet oder geschlossen sind, wenn man nach Alter impft? Ein interessantes Ergebnis dabei war, dass die Todeszahlen auch sinken, wenn die Schulen offenbleiben. Ein anderes besagt, dass eine Impfstrategie, die am Anfang die Menschen mit den höchsten Interaktionen impft, die sogenannte Herdenimmunität am frühesten erreichen lässt.
Das Modell der Klipp-Arbeitsgruppe ist öffentlich und frei zugänglich und für jeden kleineren Ort in Deutschland als generelles Konzept anwendbar, auch für zukünftige Pandemien. Die Grundidee am Anfang war, lokale Hilfestellungen zu geben, ohne dass damit kommerzielle Zwecke verfolgt werden. So können Bürgermeister kleinerer Gemeinden das Modell herunterladen und ihre lokalen Daten eingeben, um die Prognosen zu sehen und die beste Strategie für ihren Ort zu erhalten.
Die Forschungsgruppen um Kai Nagel (TU Berlin), Christof Schütte und Tim Conrad (ZIB/FU Berlin) arbeiten in ihren agentenbasierten Berechnungsmodellen mit einer sehr großen Anzahl an Agenten. Hier werden die Bewegungsmuster von ca. ein Million Agenten, hier die Menschen in Berlin, durchgerechnet. Das sind 25% der Berliner Bevölkerung, wofür ein Hochleistungsrechner im Zuse-Institut nur etwas weniger als eine Stunde braucht. Agentenbasierte Modelle erlauben es auch, viele Regeln einsetzen und individuelle Entscheidungen mit einzubeziehen, womit ein umfangreicheres Spektrum von Effekten dargestellt werden kann.
Die Grundlage für das Modell liefert eine Software, die in Kai Nagels Gruppe entwickelt wurde, und die für die Verkehrsplanung und Mobilitätsforschung gedacht war und ist. Das Alleinstellungsmerkmal des Projektes im Gegensatz zu anderen Modellen ist die Verwendung realer tagesaktueller Daten über das Aktivitätsniveau der Bevölkerung. Dies wird aus Mobilfunkdaten abgeleitet. Auf Basis dieser realen Daten kann das agentenbasierte Modell immer wieder an die jeweils wirkliche Situation angepasst werden. Damit können mit diesem Modell Vorhersagen getroffen werden, wie sich die Infektionszahlen entwickeln, wenn entsprechende Restriktionen gelten und die Bürger*innen diese befolgen. Diese Agenten sind dann tatsächlich das Abbild bzw. das Modell, der digitale Zwilling, dieser Stadt.
Eine Erweiterung des Modells macht es möglich, dass alles, was eine Übertragung bzw. Weitergabe beinhaltet, z.B. Viren, Informationen, Fake News oder Gegenstände, damit berechnet werden kann. Das Modell kann ebenfalls frei verfügbar heruntergeladen werden und steht gemäß dem Open Source Prinzip auch anderen Wissenschaftler*innen zur Verfügung.
Natürlich gibt es laut Tim Conrad auch „die Grenzen der Modellierung, was die Zukunftsprognosen angeht, denn Modelle sagen in den meisten Fällen das vorher, was im Rahmen der vorgegebenen Regeln möglich ist. Wenn die Regeln vorschreiben, dass nach einer Infektion drei Tage zu Hause geblieben wird, dann macht der Agent in der Simulation das auch. Wenn das aber in der Realität nicht passiert, dann sind die vorhergesagten Zahlen offensichtlich anders.“ Das bedeutet, dass man die Prognosen von einem Modell natürlich nicht generell als „wahr“ annehmen darf, sondern immer prüfen und bewerten muss.
Das ganze Projekt ist dabei, laut Conrad, ein umfassender Teamerfolg, denn: „Dahinter steht ein großes Team, das viel Zeit investiert hat.“ Zeit, die nicht unbedingt in die wissenschaftliche Karriere einfließt, sondern dem Bedürfnis geschuldet ist, das mathematische Wissen für die Gesellschaft einzusetzen. In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Projekt arbeiten bis zu 15 Berliner Wissenschaftler*innen.
Der grundlegende Ansatz ist bei beiden Forschungsgruppen somit gleich und basiert auf der gleichen Methodik, der agentenbasierten Modellierung. Der Unterschied liegt in der jeweiligen Größe des Untersuchungsortes und der Ausprägung bzw. in den zugrundeliegenden Daten. Für alle Wissenschaftler*innen gelten aber die gleichen Ziele: Mit Hilfe der Mathematik die Pandemie besser zu verstehen und somit Vorhersagen treffen zu können, um Handlungsanweisungen und Lösungsvorschläge anzubieten.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
nagel@vsp.tu-berlin.de
schuette@mi.fu-berlin.de
conrad@zib.de
Weitere Informationen:
https://mathplus.de/ - Webseite des Exzellenzclusters und Forschungszentrums der Berliner Mathematik MATH+
https://mathplus.de/news/covid-19-related-research/ - Covid-19 bezogene Forschungsprojekte bei MATH+
https://senozon.com/modus-covid/ - Forschungsgruppe MODUS-COVID: Modellgestützte Untersuchung von Massnahmen zur Eindämmung von COVID-19 (Nagel/Schütte)
https://www.zib.de/members/schuette - C. Schütte (Zuse-Institut)
https://www.zib.de/members/conrad - T. Conrad (Zuse-Institu)