Digitale Schatzkammern von Museen geöffnet
Museumsverbund ermöglicht mit Online-Datenbank Einblicke in den Wandel der maritimen Lebenswelt der letzten 200 Jahre
In den letzten zwei Jahrhunderten hat sich der Lebensraum in Nord- und Ostsee massiv gewandelt: Durch klimatische Veränderungen, Überfischung oder Verschmutzung verringerte sich der Bestand bisher heimischer Tierarten und einige verschwanden sogar ganz. Neue Arten wanderten aus anderen Gebieten ein. Davon zeugen die über 17.000 Funde aus zwölf Museen der Nord- und Ostseeregion, die ein Forschungsprojekt unter Leitung des Zoologischen Museums der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) digital erfasst und in einer Datenbank des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturkundemuseum Frankfurt, zusammengeführt hat. In seiner Studie konnte das Forschungsteam um das Zoologische Museum Kiel dank der Datenbank die Entwicklung der Biodiversität und die Veränderung des Ökosystems in Nord- und Ostsee seit dem 19. Jahrhundert untersuchen, und einige bisher unbekannte Veränderungen in der Verbreitung von Arten rekonstruieren. Damit konnte das Team erstmals zeigen, dass naturkundliche Sammlungen auch dazu genutzt werden können, Veränderungen in der Fauna zu rekonstruieren. Ihre Ergebnisse, die kürzlich in der wissenschaftlichen Zeitschrift Royal Society Open Science erschienen sind, liefern damit auch einen Beitrag zur Erarbeitung von Maßnahmen zum Schutz der Meere.
In langen Regalen lagern hunderte Schälchen mit Muscheln. In zahlreichen Gläsern schwimmen Krebse, Seesterne oder Garnelen, beschriftet mit Fundort und -datum, nach fast zwei Jahrhunderten oft verblichen und kaum noch zu lesen. „Historische Sammlungen auszuwerten, ist aufwendige Detektivarbeit, aber es lohnt sich, wenn man die richtigen Methoden anwendet“, sagt Dr. Christine Ewers-Saucedo vom Zoologischen Museum Kiel, Leiterin der gerade erschienenen Studie. Die Sammlungsbestände von Naturkundemuseen seien die einzige Möglichkeit, Einblicke in langfristige Veränderungen der maritimen Tierwelt zu erhalten und darüber auch Rückschlüsse auf dauerhafte klimatische Veränderungen zu ziehen. „Anhand solcher historischer Langzeitperspektiven können wir zum einen besser beurteilen, ob heutige Veränderungen der Tierwelt natürliche Schwankungen oder gravierende Veränderungen von Dauer darstellen. Zum anderen hoffen wir, daraus eine Art ‚Baseline‘ zu entwickeln“, sagt die Marine Populationsgenetikerin. „Baseline“ bezeichnet eine Art „Normal- oder Urzustand“, in dem sich Tierarten oder ganze Ökosysteme befanden, bevor es zu Veränderungen durch den Menschen verursachte Faktoren kam. Das kann eine wichtige Grundlage sein, um Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederansiedelung von Arten in der Nord- und Ostsee zu entwickeln.
Gemeinsame Datenbank gibt neue Hinweise auf den Rückgang heimischer Arten
Das ist eines der Ziele des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten MARSAMM-Projektes, in dem sich zwölf Museen und Naturwissenschaftliche Sammlungen aus Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zusammengeschlossen haben. Ein Herzstück ist die neue digitale Datenbank, mit deren Hilfe Bestände aus der Nord- und Ostsee der letzten zweihundert Jahren nicht nur dokumentiert, sondern auch mit bildgebenden Verfahren und historischen DNA-Analysen ausgewertet werden. Dabei geht es besonders um die Frage, ob es zu populationsgenetischen Differenzierungen und funktionellen Anpassungen, zum Beispiel bei eingewanderten Arten, gekommen ist.
In der ersten Studie mit der Datenbank konnte die CAU jetzt gemeinsam mit dem Senkenberg Museum, dem Centrum für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg und weiteren Partnern des Museumsverbunds der Nord- und Ostsee Region NORe zum ersten Mal zeigen, dass der Bestand von Stachelhäutern wie dem Felsspalten-Schlangenstern (Ophiolis aculeata) und dem Norwegischen Schlangenstern (Amphilepis norvegica) zurückgeht. Für die Dreidornige Garnele (Philocheras trispinosus) ging man bisher davon aus, dass sie in der Nordsee heimisch war. Sie taucht aber erst ab 1948 in der Datenbank auf, hat also vermutlich durch äußere Einflüsse ihr Siedlungsgebiet hierhin verändert.
Außerdem konnte das Forschungsteam bereits bekannte Veränderungen im Ökosystem der Nord- und Ostsee bestätigen, wie die Einwanderung der Chinesischen Wollhandkrabbe und der Pazifischen Auster. Auch der Rückgang des Europäischen Hummers oder der Europäischen Auster, die beide auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohter Tier- und Pflanzenarten stehen, zeigt sich in der Auswertung der Daten. „Diese Übereinstimmung mit bereits bekannten Ergebnissen bestätigt, dass die Datenbank funktioniert“, erklärt Dr. Dirk Brandis, Leiter des Zoologischen Museums Kiel und Privatdozent an der CAU.
Naturkundesammlungen konnten erst durch Bewusstsein für Diversität entstehen
Durch die Bündelung der verschiedenen Museumssammlungen ist eine einzigartige Datengrundlage zur Entwicklung der Biodiversität in Nord- und Ostsee entstanden. „Je mehr Sammlungen an der Datenbank beteiligt sind und je vielfältiger sie sind, desto dichter wird das historische Bild. Gerade kleinere Museen haben oft eine spezielle Ausrichtung mit zum Teil sehr alten, wertvollen Funden“, sagt Ewers-Saucedo. Das älteste Exemplar in der Datenbank ist ein Taschenkrebs von 1830 aus dem Senckenberg Museum Frankfurt. Es stammt aus einer Zeit, in der sich ein Bewusstsein für den Wert von wissenschaftlichen Sammlungen gerade erst bildete. „Die Vorstellung, dass Tier- oder Pflanzenarten verschwinden können, zum Beispiel durch Überfischung, war früher kaum verbreitet“, erklärt Ewers-Saucedo. „Die Ressourcen schienen gewissermaßen unendlich.“ Somit wurde kaum Bedarf gesehen, einzelne oder mehrere Exemplare von Muscheln, Krebsen oder Schnecken zu Forschungszwecken zu sammeln. „Dazu kam es wahrscheinlich erst, als im Zuge der gesteigerten Mobilität durch globalere Handels- und Forschungsinteressen auffiel, dass Arten sich regional unterschieden“, vermutet sie. Anfangs wurden die Exemplare oft nach persönlichen Interessen ausgewählt und gelagert. Im Laufe der Zeit wurden die naturkundlichen Sammlungen systematischer, bis im Zuge der Umweltveränderungen der 1970er und 1980er Jahre auch das politische Interesse wuchs und wissenschaftliche Langzeitstudien gefördert wurden.
„Historische Sammlungen benötigen eine sorgfältige Pflege und Auswertung, aber sie sind die einzige Möglichkeit, historische Veränderungen von Lebenswelten aufzudecken. Sie liefern damit unersetzliche Beiträge zum Verständnis von den Anfängen und frühen Auswirkungen von Klimawandel und Globalisierungsprozessen“, sagt Brandis. „Mit dieser Datenbank haben wir jetzt ein weltweit einzigartiges und wertvolles Instrument, das ganz neue Forschungsfragen für marine Ökosysteme ermöglicht.“
Das Projekt „MARSAMM - Historische Sammlungen mariner Organismen - ein Fenster in die Anfänge von Global Change in Nord- und Ostsee“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Initiative „Vernetzen – Erschließen – Erforschen. Allianz für universitäre Sammlungen“ gefördert. www.nore-museen.de/de/marsamm
Über den Museumsverbund der Nord- und Ostsee Region NORe e.V.
Zwölf Museen und Naturwissenschaftliche Sammlungen aus Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben sich 2010 zu dem Museumsverbund der Nord- und Ostsee Region „NORe“ zusammengeschlossen. Hier bündeln sie ihre verschiedenen Kompetenzen und Sammlungsdaten für gemeinsame Forschungsprojekte und Ausstellungen – so stehen insgesamt rund 5,5 Millionen zoologische Objekte für die internationale Forschung zur Verfügung. Die Verbundpartner sind: Naturkunde Museum Bielefeld, Staatliches Naturhistorisches Museum Braunschweig, Übersee-Museum in Bremen, Haus der Natur in Cismar, Zoologisches Museum der Universität Greifswald, Centrum für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg, Zoologisches Museum der Universität Kiel, Museum für Natur und Umwelt Lübeck, Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg, Zoologische Sammlung der Universität Rostock, Deutsches Meeresmuseum Stralsund, Müritzeum in Waren (Müritz).
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
PD Dr. Dirk Brandis
Leitung Zoologisches Museum Kiel
Tel: 0431/880-5170
E-Mail: brandis@zoolmuseum.uni-kiel.de
Web: http://www.zoologisches-museum.uni-kiel.de
Dr. Christine Ewers-Saucedo
Telefon: 0431/880-5000
E-Mail: ewers-saucedo@zoolmuseum.uni-kiel.de
Originalpublikation:
Ewers-Saucedo C et al. 2021, Natural history collections recapitulate 200 years of faunal change. R. Soc. Open Sci. 8: 201983, https://doi.org/10.1098/rsos.201983
Weitere Informationen:
https://marsamm.senckenberg.de Datenbank
https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/090-marsamm Link zur Meldung
http://www.nore-museen.de Museumsverbund der Nord- und Ostsee Region NORe e.V