DFG richtet neuen SFB „Humandifferenzierung“ an JGU und IEG ein
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat zum 1. Juli 2021 die Einrichtung eines neuen Sonderforschungsbereichs (SFB) »Humandifferenzierung« bewilligt. Der Antrag wurde von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zusammen mit dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz (IEG) gestellt. Der SFB 1482 wird mit insgesamt rund 10 Millionen Euro für eine erste Periode von vier Jahren gefördert.
Im Mittelpunkt des SFB steht die Forschungsfrage, wie historische und gegenwärtige Gesellschaften ihre Mitglieder kategorisieren, räumlich trennen und ihnen damit jeweils andere soziale Zugehörigkeiten nahelegen. Die vom IEG seit 2012 im Rahmen seines Forschungsprogramms zum »Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit« geleistete Arbeit geht damit in einen interdisziplinären kultur- und sozialwissenschaftlichen Verbund ein. Beteiligt am SFB sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Geschichtswissenschaft am IEG sowie aus der Soziologie und Ethnologie, der Amerikanistik und Linguistik, der Theater-, Medienkultur- und Translationswissenschaft der JGU.
Humandifferenzierung meint zunächst die Außenunterscheidung des Menschen von Tieren und Artefakten wie etwa Robotern, sodann die Einteilung von Menschen in Kategorien und Gruppen wie Ethnien, Nationen, Sprach- und Religionsgemeinschaften und schließlich ihre Unterscheidung aufgrund von Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Behinderung oder Leistung. »Der SFB befasst sich mit einem elementaren, folgenreichen und konfliktträchtigen Phänomen: dass sich Menschen fortlaufend kategorisierend unterscheiden. Ziel ist es, eine allgemeine Theorie der Humandifferenzierung zu entwickeln, die deren soziokulturelle Funktionen bestimmt«, so der Sprecher des Sonderforschungsbereichs, Prof. Dr. Stefan Hirschauer vom Institut für Soziologie der JGU.
Nicht einzelne Unterscheidungen sind relevant, sondern das Zusammenspiel der vielen verschiedenen Zugehörigkeiten von Menschen
Der SFB soll forschungsorganisatorisch eine spezialisierte und voneinander separierte Vielfalt von Forschungszweigen zur Kategorisierung von Menschen in einem neuen übergreifenden Feld »Studies in Human Categorization« zusammenführen. Dabei werden nicht mehr wie bisher einzelne Unterscheidungen – etwa nach Geschlecht, Ethnizität oder Religion – ins Zentrum gerückt. Die Mitglieder des SFB beobachten vielmehr die vielen Zugehörigkeiten von Individuen in ihrer Konkurrenz zueinander und beleuchten, wie Menschen mal so, mal so unterschieden werden. Der historische Wandel und die jeweils spezifischen Zusammenhänge, in denen Unterscheidungen getroffen werden – oder Menschen eben auch nicht unterschieden werden – sind für das IEG von besonderem Interesse. Wie der Direktor des IEG, Prof. Dr. Johannes Paulmann, erläutert, sollen »eine grundlegende Reflexion über langfristige Differenzierungsprozesse angestoßen und theoretische Überlegungen für die Geschichtswissenschaft entwickelt werden«.
Die insgesamt 20 Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs greifen in den drei Arbeitsbereichen »Körper und Performances«, »Mobilität und Ordnungsprozesse« sowie »Humangrenzen und Infrastruktu¬ren« zentrale Aspekte der übergeordneten Fragestellung auf. Das IEG ist mit drei Teilprojekten am SFB beteiligt. Ein Vorhaben untersucht, wie in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Kategorie »Flüchtling« durch rechtlich-bürokratische Unterscheidungen von Menschen und deren Selbstverortung entwickelt wurde. Ein weiteres soziologisch-historisch angelegtes Projekt beschäftigt sich damit, wie die Unterscheidung etwa von »Infizierten«, »Genesenen« oder »Geimpften« Nähe- und Distanzverhalten während aktueller und historischer Pandemien veränderte. Schließlich widmet sich ein Teilprojekt der Mensch-Tier-Unterscheidung und ihrer Durchlässigkeit im Rahmen der Verhaltensforschung am Serengeti Research Institute in Tansania seit den 1960er Jahren.
Die Ergebnisse von Humandifferenzierung erscheinen in öffentlichen Diskursen meist als unhinterfragte, gegebene Eigenschaften von Menschen. Sie können zum Aufhänger für identitäre Zuschreibungen werden. Demgegenüber will der SFB dafür sensibilisieren, dass Menschen und soziale Gruppen erst dadurch zu ihren Merkmalen kommen, dass sie in sozialen Praktiken unterschieden werden und sich selbst unterscheiden. Er will das gesellschaftliche und historische Verständnis dafür schärfen, dass diese Unterscheidungen oft zu mehreren, konkurrierenden Ergebnissen führen können und dabei komplex miteinander verschränkt sind.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Johannes Paulmann
Direktor, Abteilung Universalgeschichte
Leibniz-Institut für Europäische Geschichte
E-Mail: paulmann@ieg-mainz.de
Prof. Dr. Stefan Hirschauer
Sprecher des SFB 1482
Soziologische Theorie und Gender Studies
Institut für Soziologie
Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU)
E-Mail: hirschauer@uni-mainz.de
Weitere Informationen:
https://www.ieg-mainz.de/ Das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz ist ein außeruniversitäres Forschungsinstitut in der Leibniz-Gemeinschaft. Es betreibt und fördert Forschungen zu den politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Grundlagen Europas in der Neuzeit und befasst sich mit aktuellen Entwicklungen in den Digital Humanities.