Neue Studie: „Von Umbrüchen und Aufbrüchen. Wie ostdeutsche Kommunen steten Wandel meistern“
Die neue Studie des Berlin-Instituts untersucht, mit welchen innovativen Ideen ostdeutsche Gemeinden den besonderen Herausforderungen seit der Wende begegnet sind.
Ostdeutsche Kommunen haben es in den letzten drei Jahrzehnten geschafft, zahlreiche Strukturbrüche und Krisen zu meistern. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation stellte die Verantwortlichen in den Rathäusern immer wieder vor neue Aufgaben, für deren Bewältigung es keine Vorbilder und fertige Konzepte gab. Die neue Studie „Von Umbrüchen und Aufbrüchen“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung untersucht, ob Gemeinden zwischen Rügen und Erzgebirge aufgrund dieser Erfahrungen besonders krisenfest sind – und gewappnet für zukünftige Herausforderungen. Sie zeigt anhand von zwölf ausgewählten Orten, welche Innovationen, Ideen und Strategien aus den Umbrüchen erwachsen sind.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch, der hohe Verlust von Arbeitsplätzen und die daraus resultierende Abwanderung vor allem junger Menschen haben ostdeutsche Kommunen seit den 1990er Jahren verändert und prägen die meisten bis heute. Viele Gemeinden haben massive Einwohnerverluste erlebt. „Die lokalen Verantwortlichen und Verwaltungen mussten Wege finden, dem demografischen Wandel zu begegnen. Es mussten Lösungen her, mit immer mehr leerstehenden Wohnungen umzugehen, die lokale Infrastruktur für eine schrumpfende und alternde Bevölkerung aufrechtzuerhalten oder die zunehmenden Lücken in der Versorgung zu schließen“, sagt Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Hinzu gesellten sich immer wieder Krisen, die den Kommunen zusätzlich kurzfristige Lösungsstrategien abverlangten, wie Hochwasserereignisse oder jüngst die Coronapandemie.
Krisen als Chance begreifen
Die Studie des Berlin-Instituts zeigt, dass die untersuchten ostdeutschen Gemeinden es dabei geschafft haben, nicht nur zu überleben, sondern immer wieder Neues anzustoßen und sich auf den steten Wandel einzulassen. „Lösungen entstehen dort, wo die Stadtoberhäupter Gestaltungswillen haben und Neugier und Offenheit gegenüber bislang unbekannten Ansätzen aufbringen“, erklärt Susanne Dähner, Mitautorin der Studie.
Die demografischen Einbrüche der vergangenen Jahrzehnte haben tiefe Spuren hinterlassen. „Bis heute dreht sich in den Rathäusern vieles darum, wie sich Einwohnerzahlen stabilisieren und im besten Fall neue Bewohner hinzugewinnen lassen“, berichtet Susanne Dähner. Hoffnung weckt bei vielen die aktuell wachsende Landlust. Um davon zu profitieren, öffnen die Verantwortlichen in den Rathäusern beispielsweise die Türen leerstehender Gebäude für temporäre Bewohner aus Großstädten, wie beim Projekt „DeinJahrinLoitz“ in dem vorpommerschen Städtchen an der Peene. Der Bürgermeister von Golzow lud 2015 zwei syrische Flüchtlingsfamilien ein, in sein Dorf im brandenburgischen Oderbruch zu ziehen, um die Dorfschule vor der Schließung zu bewahren.
Ein Dorf macht sich „enkeltauglich“
Neben den demografischen Veränderungen und dem wirtschaftlichen Strukturwandel setzen weitere große Entwicklungen den Rahmen für die Arbeit in den Rathäusern: der Übergang in die Wissensgesellschaft und damit verbunden die Digitalisierung von Arbeitswelt und Bildung, Verwaltung und gesellschaftlicher Teilhabe. Das brandenburgische Wittenberge hat von dem Projekt „Summer of Pioneers“ profitiert, das ortsunabhängig und digital Arbeitende für einen sechsmonatigen Aufenthalt in die Elbstadt eingeladen hat. Einige der neuen Wissensarbeiter sind dauerhaft geblieben.
Hinzu kommt, dass Kommunen überall im Land sich gegen die Auswirkungen des Klimawandels wappnen müssen und gleichzeitig viel dazu beitragen können, die menschengemachte Erderwärmung abzubremsen und den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. Als vorbildlich hat sich dabei die kleine sorbische Gemeinde Nebelschütz in Sachsen erwiesen: Mit Blick auf das übergeordnete Ziel, „enkeltauglich“ zu sein, arbeiten die lokalen Akteure beispielsweise an einer autarken Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen und haben den Dorfladen mit dem Verkauf von regionalen, ökologischen Produkten wiederbelebt. Die ehemals schrumpfende Kommune hat es geschafft, dass potenzielle Zuzügler und innovative Unternehmen anklopfen.
Lösungen trotz klammer Kassen
Der wirtschaftliche Umbruch der Nachwendejahre und die geringere Wirtschaftsstärke des Ostens spiegeln sich in den Gemeindekassen wider. „In ihrer finanziellen Abhängigkeit von Zuweisungen und Fördergeldern sehen manche der Befragten bis heute eine der größten Herausforderungen, die sie in ihrer Handlungsfähigkeit einschränken“, so Catherina Hinz. Indessen wissen die kommunalen Verantwortlichen, dass sie Angebote wie Schwimmbad oder Bibliothek trotz knapper Kassen aufrechterhalten müssen, denn diese bestimmen über Lebensqualität und Attraktivität einer Gemeinde. Vielerorts gelingt dies noch, indem Bürgerinnen und Bürger beispielsweise das Heimatmuseum ehrenamtlich betreuen oder lokale Handwerker die Turnhalle kostenlos sanieren helfen. Umso wichtiger ist es für die Kommunen, das freiwillige Engagement und die gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. Andere haben es darüber hinaus geschafft, über den Ausbau einer lokalen Energieversorgung zusätzliche Einnahmen zu generieren, wie das thüringische Bioenergiedorf Schlöben.
Wie krisenfest sind ostdeutsche Kommunen?
„Die gesammelten Erfahrungen haben vielerorts neben Mut zur Veränderung zu großer Gelassenheit und Pragmatismus geführt“, fasst Susanne Dähner zusammen, „aber die erlebten Herausforderungen allein machen eine Gemeinde nicht automatisch krisenfest.“ Wie gut die Gemeinden auf Krisen reagieren, wie innovativ und zukunftsfähig sie sind, hat weniger mit Ost oder West, Stadt oder Land zu tun. Vielmehr hängt es stark von den handelnden Personen ab, von den Rahmenbedingungen und der Unterstützung, die sie finden.
Auch wenn die beschriebenen Herausforderungen ostdeutsche Gemeinden in besonderem Ausmaß getroffen haben, sind die Lösungen und Strategien, die wir vorgefunden haben, in den seltensten Fällen spezifisch ostdeutsch. Die Verantwortlichen in den Rathäusern müssen das Rad nicht neu erfinden, sondern holen sich Ideen und Inspiration von anderen Kommunen oder Partnern aus Zivilgesellschaft, Forschung und Wirtschaft. So entwickeln angehende Architekten einer regionalen Hochschule neue Nutzungskonzepte für eine leerstehende Schule im mecklenburgischen Dobbertin oder Ehrenamtliche gestalten die Nachbarschaftshilfe für ältere Menschen in der sachsen-anhaltinischen Hansestadt Stendal. Entscheidend ist, ob sich eine Kommune offen dafür zeigt, Antworten zu finden und den Mut hat, auch ganz neue Wege zu gehen.
Das Berlin-Institut hat für seine aktuelle Veröffentlichung zwölf kleine bis mittelgroße ostdeutsche Kommunen näher unter die Lupe genommen, von Dobbertin in Mecklenburg-Vorpommern bis Seifhennersdorf in Sachsen. In den Dörfern und Städten haben wir mit gegenwärtigen und ehemaligen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Gemeinde- und Stadtratsmitglieder sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren aus Vereinen, Hochschulen und Unternehmen gesprochen. Wir wollten wissen, wie die Erfahrungen der Nachwendejahre und der Umgang mit wiederkehrenden Umbrüchen sie geprägt haben und welche Ansätze und Lösungen für ihre Kommunen daraus entstanden sind.
Die Studie
„Von Umbrüchen und Aufbrüchen – Wie ostdeutsche Kommunen steten Wandel meistern“
steht Ihnen als Download zur Verfügung unter:
https://www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/von-umbruechen-und-aufbruechen
Bei Rückfragen helfen wir Ihnen gerne weiter:
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstr. 59
10627 Berlin
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut wissenschaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf. Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen Newsletter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Susanne Dähner, daehner@berlin-institut.org, Tel.: 030-31 01 74 50
Catherina Hinz, hinz@berlin-institut.org, Tel.: 030-22 32 48 45
Lilian Beck, beck@berlin-institut.org, Tel.: 030-31 01 73 24
Originalpublikation:
https://www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/von-umbruechen-und-aufbruechen