Wenn der Gehirnscan unsere Wahrnehmung verzerrt
Die Untersuchung im Kernspintomographen stört die Raumwahrnehmung gesunder Personen, berichten Tübinger Hirnforschende
Die Kernspintomographie – auch Magnetresonanztomographie (MRT) genannt – setzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerne zur Untersuchung unseres Gehirns und seiner Funktionen ein. Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Dr. Hans-Otto Karnath vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen berichtet nun, dass die Untersuchung selbst unsere Gehirnleistungen beeinflusst. Das starke Magnetfeld des MRT-Scanners stimuliere ungewollt das Gleichgewichtsorgan und verzerre dadurch die Raumwahrnehmung bei gesunden Versuchspersonen. Werden sie wieder aus der Röhre geholt, normalisiert sich ihre Wahrnehmung. Die Erkenntnis ist bedeutsam für künftige Studien in den Neurowissenschaften. Diese müssen unbedingt die verfälschte räumliche Aufmerksamkeit im MRT-Scanner berücksichtigen, fordern die beiden Wissenschaftler. Die Studie ist in der Fachzeitschrift eLife erschienen.
Das MRT ist in der medizinischen Diagnostik und Forschung weit verbreitet. Das Verfahren nutzt die magnetischen Eigenschaften der Atome in unserem Körper, um Organe und ihre Funktion bildlich darzustellen. Dazu ist allerdings ein starkes Magnetfeld erforderlich. „Untersuchungen im Magnetfeld sind harmlos und schaden nicht der Gesundheit. Manche Personen bemerken die Auswirkung des Feldes, indem ihnen im Scanner leicht schwindelig wird“, berichtet Neurobiologe und Erstautor Dr. Axel Lindner. „Dass das Magnetfeld nun auch grundlegend Einfluss auf die Wahrnehmung und damit bestimmte Studienergebnisse hat, ist neu und ein wichtiger Befund.“
Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen beobachtete er, dass sich gesunde Versuchspersonen im MRT plötzlich anders verhielten: Ihre räumliche Aufmerksamkeit driftete zur rechten Seite ab und das Gefühl für die Orientierung des eigenen Körpers im Raum war gestört. „Diese Beobachtungen erinnerten uns stark an Wahrnehmungsstörungen, wie sie nach Schlaganfällen auftreten können. Patientinnen und Patienten mit sogenanntem räumlichem Neglect vernachlässigen Reize in einer Seite des Raums. Sie lesen zum Beispiel nur die rechte Hälfte einer Zeitung oder laufen gegen die linke Seite des Türrahmens, weil sie ihn dort übersehen“, erklärt Neurologe Karnath.
In der Hirnforschung wird das MRT gerne eingesetzt, um dem Gehirn quasi beim Denken zuzuschauen. Mit ihm kann man untersuchen, wie es Reize wahrnimmt und verarbeitet. Dass Probandinnen und Probanden im Scanner ihre räumliche Wahrnehmung und Verhalten ändern, sollten künftige neurowissenschaftliche Studien unbedingt berücksichtigen, so die beiden Wissenschaftler. „Die Hirntätigkeit ist unter dem Magnetfeld auf jeden Fall verändert“, betont Lindner.
Möglicherweise kann das beobachtete Phänomen dazu genutzt werden, um Schlaganfallpatientinnen und -patienten mit Neglect zu therapieren. In weiteren Schritten wollen die Forschenden untersuchen, ob der Effekt bei längeren und mehrfachen MRT-Sitzungen doch über längere Zeit anhält und ob er bei Erkrankten die Symptome abschwächen kann.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Universitätsklinikum Tübingen / Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Klinik
PD Dr. Axel Lindner / Prof. Dr. Dr. H.-O. Karnath
Hoppe-Seyler-Straße 3, 72076 Tübingen
Tel. 07071 29-80476, Fax 07071 29-4489
E-Mail a.lindner@medizin.uni-tuebingen.de / karnath@uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Lindner et al. (2021): Lying in a 3T MRI scanner induces neglect-like spatial attention bias. Elife;10:e71076.
doi: 10.7554/eLife.71076
Weitere Informationen:
https://www.hih-tuebingen.de Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
http://www.medizin.uni-tuebingen.de Universitätsklinikum Tübingen