Abschmelzen der Gletscher in Patagonien wird durch Klimawandel bestimmt – aber auch durch die Geometrie von Seen
Seit Jahrzehnten schrumpfen die Gletscher der großen patagonischen Inlandeise – Folge des zunehmenden Klimawandels. Ein internationales Team unter der Beteiligung von Wissenschaftlern des Geographischen Institutes der Humboldt-Universität zu Berlin hat nun entschlüsselt, wie vor der Gletscherfront des Grey-Gletschers in Chile das Kalben von Eisbergen und die Eisschmelze an der Gletscherfront durch stabile thermische Schichtung des Sees und durch die Geometrie des Seebodens dominiert werden.
Der Lago Grey ist ein viele Quadratkilometer großer, typischer „proglazialer See“, der heute das ehemalige Zungenbecken des Grey-Gletschers ausfüllt. Durch das Zurückweichen des Grey-Gletschers nahm der vor der Gletscherzunge liegende See im Laufe der Jahrtausende eine immer größere Fläche ein. Nach 1997 wich die Gletscherfront in einem Jahr abrupt aufgrund einer ausgedehnten Vertiefung im Untergrund um über 1,5 km zurück. Seither geht wegen des kalten Seewassers und ansteigenden Seebodens im Bereich der Gletscherfront das Zurückweichen langsam und stetig weiter. Durch die Auswertung von Daten experimenteller Wetterstationen und Messungen von Temperatur und Trübung im See in verschiedenen Tiefen konnte nun das Zusammenspiel zwischen Atmosphäre, Gletscher und See interpretiert und entschlüsselt werden.
"Der See wird, wie erwartet, durch das Schmelzwasser vom Gletscher beeinflusst, aber das Ausmaß dieses Einflusses ist viel größer als zuvor gedacht," stellt der Erstautor der Studie, Prof. Shin Sugiyama von der Universität Hokkaido in Japan fest. Das bedeutet zugleich, dass der See im Sommer in der Tiefe am kältesten ist – anders als man eigentlich annehmen würde. Denn dem See fließt dann viel sehr kaltes Schmelzwasser zu.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Zurückschmelzen der Gletscher in Patagonien im Zusammenhang mit Klimawandel nicht gleichmäßig, sondern je nach Geometrie der Seen vor der Gletscherfront quasi ruckartig und in jedem Falle nichtlinear abläuft“, ergänzt Prof. Tobias Sauter vom Geographischen Institut der Humboldt-Universität, der gemeinsam mit Christoph Schneider, dem neuen Vizepräsidenten Forschung der Humboldt-Universität zu Berlin, seit vielen Jahren in Patagonien forscht.
Interessant dabei ist, dass sich der Gletscher – anders als beim Kalben ins Meer – aufgrund des kalten Tiefenwassers dorthin vorschieben kann, während im oberen Bereich das Abschmelzen durch den Kontakt mit dem warmen Oberflächenwasser viel rascher vor sich geht. Aufgrund des Auftriebs können dann subaquatische Eisabbrüche auftreten, die das Eis abrupt nach oben in wärmeres Oberflächenwasser gelangen lassen, wo diese Eisberge dann allmählich schmelzen. Das Verständnis dieser Vorgänge ist deshalb von hoher Bedeutung, da ähnliche wie jetzt am Lago Grey in Patagonien nachgewiesene Effekte in vielen Gebirgen der Erde auftreten können, wo solche proglazialen Seen mit den von und an ihnen ausgelösten Flutereignissen zu den größten Naturgefahren zählen.
Für Prof. Christoph Schneider, der seit dem Jahre 2000 an einem Dutzend Forschungskampagnen in verschiedenen Teilen Patagoniens und Feuerlands teilgenommen hat, aber auch schon in der Antarktis, Tibet, Spitzbergen, Skandinavien, den Alpen und dem Tien Shan an Gletschern geforscht hat, ist das jetzt erzielte Ergebnis vor allem Ausdruck langjähriger internationaler Zusammenarbeit: „In so entlegenen Gebieten der Erde ist es wichtig, dass man die Kräfte bündelt, internationale Zusammenarbeit und Arbeitsteilung sucht, und dann – wie wir es hier in diesem japanisch-chilenisch-deutschen Team gemacht haben – gemeinsam Daten analysiert und Modelle dazu entwickelt.“
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Tobias Sauter
Humboldt-Universität zu Berlin
Geographisches Institut
mail: tobias.sauter@geo.hu-berlin.de
Prof. Dr. Christoph Schneider
Humboldt-Universität zu Berlin
Vizepräsident für Forschung
mail: vpf@hu-berlin.de
Originalpublikation:
Shin Sugiyama, Masahiro Minowa, Yasushi Fukamachi, Shuntaro Hata, Yoshihiro Yamamoto, Tobias Sauter, Christoph Schneider & Marius Schaefer (2021): Subglacial discharge controls seasonal variations in the thermal structure of a glacial lake in Patagonia. Nature Communications 12, 6301, https://doi.org/10.1038/s41467-021-26578-0