"Wir sind keine Maschinen" - Erste Forschungsergebnisse des VULNER-Projekts
Die Aufmerksamkeit für die Situation schutzbedürftiger Migranten nimmt zu, man widmet sich ihnen aber schablonenartig. Diejenigen, deren Vulnerabilität schwer zu erkennen ist, werden leicht übersehen und nicht angemessen behandelt. Ob und wie das geschieht, hängt oft von einzelnen Akteuren ab, z. B. von Sachbearbeitern oder Richtern.
Wie ermitteln staatliche Akteure die Bedürfnisse schutzbedürftiger Migranten, die Asyl beantragen? Das untersuchen Rechtswissenschaftler, Anthropologen und Soziologen gemeinsam im Rahmen des von der EU finanzierten VULNER-Projekts. Die Wissenschaftler erforschen diese Frage in Belgien, Deutschland, Italien, Norwegen, Kanada, Libanon und Uganda.
In der ersten Phase des Projekts analysierten sie Tausende von rechtlichen und administrativen Dokumenten: internationale, europäische und nationale Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsrichtlinien, Weißbücher. Allein in Kanada prüften sie mehr als 850 Gerichtsverfahren. Wie wird Vulnerabilität durch Gesetze und administrative Praktiken bewertet? Dies herauszufinden, war das Ziel dieser ersten Phase.
Rechtliche Analyse und Interviews
Die Analyse der Rechtsdokumente wurde von Interviews mit Entscheidungsträgern vor Ort begleitet, wie z. B. mit Beamten, die für die Entscheidung über Asylanträge zuständig sind, Sozialarbeitern und humanitären Helfern, Richtern und Rechtsanwälten. Die Forscher führten 216 ausführliche Interviews, um herauszufinden, wie der rechtliche Rahmen in der Praxis umgesetzt wird.
Dr. Luc Leboeuf, wissenschaftlicher Koordinator des VULNER-Projekts, ist von den ersten Ergebnissen begeistert: „Es ist faszinierend zu sehen, wie ein scheinbar übereinstimmendes politisches Ziel, das auf UN- und EU-Ebene festgelegt wurde, wie der Schutz der am stärksten gefährdeten Menschen, auf sehr unterschiedliche Weise verstanden werden kann und zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt. Die beeindruckende Menge an Daten, die während der ersten Forschungsphase gesammelt wurde, zeigt eine große Vielfalt an Ansätzen zur Identifizierung schutzbedürftiger Personen und zum Umgang mit ihren Bedürfnissen in den untersuchten Ländern – von standardisierten Verfahren zur Bewertung der Schutzbedürftigkeit bis hin zu flexiblen Prozessen, die den zuständigen Beamten einen großen Spielraum lassen. Das ermöglicht es uns, die jeweiligen Nachteile der einzelnen Ansätze besser zu erfassen. Wir sind schon sehr gespannt darauf, unsere Analyse dahingehend zu vertiefen, wie sich diese verschiedenen Ansätze auf die Lebenswirklichkeit der Migranten auswirken.“
Aufmerksamkeit für Vulnerabilität nimmt zu
Erste Ergebnisse zeigen, dass die Aufmerksamkeit für das Thema zunimmt – ebenso wie das Bewusstsein für die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Migranten. In den letzten Jahren wurden von den Vereinten Nationen, in der EU und den meisten der untersuchten Länder Leitlinien entwickelt, die Entscheidungsträgern im Umgang mit vulnerablen Migranten helfen sollen.
Daraus ergaben sich allerdings oft Listen von Merkmalen oder Gruppen von Personen, beispielsweise Minderjährige, Frauen oder Menschen, die sich als LGBTQIA+ identifizieren. Diese Art der Klassifizierung von „vulnerablen Migranten“ schließt allerdings nicht nur Menschen aus, die nicht in diese Kategorien passen. Sie führt auch dazu, dass man sich auf abstrakt definierte, persönliche Merkmale fixiert. Ein norwegischer Sozialarbeiter macht das Problem dieses Ansatzes klar: „Wir erfassen die schwerwiegenderen Dinge, wie etwa Behinderungen oder wenn eine Person taub ist. In diesen Fällen weiß man, dass etwas getan werden muss. Weniger sichtbare Bedürfnisse sind schwieriger zu entdecken. Verletzungen, die durch die Geschehnisse in ihrem Heimatland oder auf der Reise nach Norwegen verursacht wurden, sind nicht so leicht zu benennen.“ Stattdessen braucht es ein umfassendes Verständnis von Vulnerabilität.
Das lässt sich auch durch den Blick in andere Länder wie Uganda oder den Libanon erkennen. Hier stellen Befragte die vorrangig westlich definierten Kategorien und Konzepte in Frage: Sie stimmten oft nicht mit der Realität vor Ort überein. Humanitäre Helfer im Libanon beispielsweise gehen anders an das Thema Schutzbedürftigkeit heran, als dies in anderen untersuchten Ländern der Fall ist. Sie bewerten Migranten vor allem danach, ob sie in der Lage sind, „Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und Schutz zu erhalten“.
Zu viele Regeln töten die Regeln
Standardisierte Instrumente wie Fragebögen können Behörden und Beamten helfen, gefährdete Migranten schneller zu identifizieren. Andererseits betonten die Befragten, dass sie Spielraum brauchen, um auf jede Person individuell einzugehen. Ein belgischer Beamter der Asylbehörde sagt: „Zu viele Regeln töten die Regel. Wir müssen am Ende einen Beurteilungsspielraum lassen, denn ich meine, es muss etwas Natürliches bleiben, eine Geschichte zu erfassen. Es darf nicht mechanisch sein. Wir sind keine Maschinen.“
Außerdem enden die Probleme nicht, wenn eine Person als schutzbedürftig eingestuft wird. Staatliche Akteure benötigen unterstützende Maßnahmen, um diese Schwachstellen im Asylverfahren zu beseitigen, z. B. effiziente Kommunikationskanäle mit anderen am Prozess beteiligten staatlichen Akteuren.
VULNER
Obwohl es an einer klaren Definition und einem umfassenden Verständnis von „Vulnerabilität“ mangelt, wird der Begriff zunehmend verwendet. Dies bildet den Ausgangspunkt für die internationale Forschungsinitiative "Vulnerabilities under the Global Protection Regime: How Does the Law Assess, Address, Shape and Produce the Vulnerabilities of the Protection Seekers?". Ziel der Untersuchung ist, ein tieferes Verständnis für die Erfahrungen von Asyl suchenden Migranten zu erlangen und zu ermitteln, wie damit am besten umgegangen werden kann. Dafür wird das Thema auf zweifache Weise analysiert: Zunächst untersuchen die Forscher, welche Schutzmechanismen es für gefährdete Migranten (wie Minderjährige und Opfer von Menschenhandel) gibt. Diese werden durch empirische Fallstudien mit den tatsächlichen Erfahrungen der Migranten konfrontiert.
Das VULNER-Projekt wird am Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie (MPI) koordiniert. Finanziert wird es vom EU-Arbeitsprogramm Horizont 2020 und dem kanadischen Forschungsrat SSHRC/CRSH; es verfügt über ein Budget von 3,2 Millionen Euro für einen Zeitraum von drei Jahren. Die Untersuchung findet in neun Ländern in Europa, Nordamerika, Afrika und dem Nahen Osten statt.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Luc Leboeuf
Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie
Advokatenweg 36, 06114 Halle (Saale)
Tel.: 0345 2927-391
E-Mail: leboeuf@eth.mpg.de
https://www.eth.mpg.de/leboeuf
Originalpublikation:
Weitere Informationen
Dies ist eine kurze Zusammenfassung der ersten Ergebnisse von Wissenschaftlern des VULNER-Projekts, das noch bis Mai 2023 läuft. Weitere Informationen finden Sie in den Forschungsberichten auf unserer Website: https://www.vulner.eu/58250/Scientific-Publications
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https://www.vulner.eu