Reliefkarte für Genverstärker
Wie stark wirkt ein Genschalter auf sein Gen? Ein Berliner Forschungsteam hat ein Register aus Genverstärkern, deren Lage im Genom sowie ihrer Aktivierungsstärke in Mäuse-Stammzellen erstellt. Dabei entdeckten sie DNA-Muster, die zuvor nicht als Schalter erkannt worden sind. Auf Basis dieser Daten kann umgekehrt ein neuer Algorithmus vorhersagen, ob eine beliebige DNA-Sequenz als Genverstärker in Stammzellen fungieren kann.
Nur etwa zwei Prozent des Genoms von Säugetieren enthalten Baupläne für Proteine, die restlichen DNA-Sequenzabschnitte können dagegen die Aktivität der Gene kontrollieren. Erbkrankheiten können daher nicht nur durch Mutationen in den Genen selbst entstehen, sondern auch wenn solche regulatorischen Sequenzen betroffen sind.
Zu den wichtigsten Regulatoren zählen Enhancer (englisch für „Verstärker“). Sie bestimmen, in welchem Gewebe und unter welchen Umständen Gene an- oder ausgeschaltet sind. Forschende um Sebastiaan Meijsing vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (MPIMG) und der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene (MPUSP) haben mit Hilfe eines neuen experimentellen Verfahrens eine Art Landkarte erstellt, die die Positionen aller Enhancer im Genom der Stammzellen der Maus darstellt. Die Ergebnisse stellten sie im Fachjournal Nucleic Acids Research vor.
Das Besondere an dieser neuen Kartierung ist, dass sie nicht nur zeigt, welche DNA-Abschnitte Gene aktivieren können. Sie stellt ebenfalls dar, mit welcher Intensität Enhancer auf ihr Gen wirken – wie eine Reliefkarte, auf der neben Ortschaften auch Berge und Täler verzeichnet sind.
„Enhancer knipsen Gene nicht nur an oder aus wie Kippschalter“, erklärt Meijsing. „Sie agieren eher wie Dimmer, denn sie können genau ausjustieren, wie stark ein Gen eingeschaltet werden muss, damit die Zelle die richtige Menge Protein herstellt.“
Die neue genomweite Karte verrät also nicht nur, wo im Erbgut sich die Enhancer für ein bestimmtes Gen befinden, sondern auch, auf welcher Stufe der „Dimmer“ steht. Sie dient Forschenden als Ressource, die zum Beispiel die Beziehung eines bestimmten Enhancers zu seinem benachbarten Gen studieren wollen.
Ausgangspunkt für die Karte war ein molekularbiologisches Verfahren namens „STARR-seq“. Bei diesem wird zunächst ein Erbgutschnipsel in ein ringförmiges DNA-Molekül (Plasmid) eingefügt. Dieses künstliche Mini-Chromosom ist so vorbereitet, dass es nur noch einen Enhancer benötigt, um aktiv zu werden.
Dann schleusen die Forschenden das Plasmid in die Zelle ein. Falls der Erbgutschnipsel nun tatsächlich eine Enhancer-Funktion besitzt, liest die Zelle das Plasmid ab – je stärker der Enhancer wirkt, desto häufiger. Dies lässt sich leicht durch Sequenzierung messen. Der Clou dabei: Unzählige DNA-Abschnitte lassen sich so simultan analysieren und aus einem Gemisch aus tausenden Erbgutabschnitten die Enhancer herausfischen.
Die Forschenden wendeten STARR-seq nicht einfach nur auf Stammzellen der Maus an, sondern entwickelten das Verfahren weiter: „Für unsere verfeinerte Methode haben wir zum einen eine Vorauswahl getroffen“, sagt Laura Glaser, Wissenschaftlerin im Team von Meijsing. „Wir haben nur die Teile des Erbguts analysiert, das bereits aufgelockert war, wo die Zelle also bereits besonders häufig auf die DNA zugegriffen hat.“ Ohnehin untätige Teile des Genoms fallen so von vornherein aus der Analyse heraus, was die Treffsicherheit erhöht und die Fehlerrate verringert.
„Zudem haben wir die Quantifizierung der Methode optimiert, so dass wir genau zurückverfolgen konnten, welcher Enhancer wie oft vom Plasmid abgelesen wurde“, sagt Glaser. Die verbesserte Protokoll taufte das Team „FAIRE-STARR-seq“.
Im Verlauf der Kartierung fielen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bisher unbekannte Muster in der DNA-Sequenz der Enhancer auf: neue Sequenzmotive, an die spezialisierte Proteine andocken und so die Gene überhaupt aktivieren. Diese Proteine heißen Transkriptionsfaktoren und gehören zu den wichtigsten regulatorischen Molekülen in der Zelle.
Außerdem beobachteten die Forschenden Veränderungen, nachdem sie den Zellen ein Signal zur Differenzierung gegeben hatten. Denn wenn Stammzellen sich zum Beispiel in Muskel-, Nerven- oder Fettzellen verwandeln wollen, starten sie die passenden genetischen Programme. Gleichzeitig schalten sie die Gene ab, die nur für Stammzellen wichtig sind. Einige Enhancer verlieren, andere gewinnen folglich an Aktivität.
„Wir konnten Konstellationen von bestimmten Transkriptionsfaktor-Motiven identifizieren, die zu besonders starker Enhancer-Aktivität führen, entweder in Pluripotenz oder im frühen Differenzierungsstadium“, sagt Glaser.
Zusammen mit Wissenschaftlerinnen aus der Bioinformatik-Abteilung am MPIMG trainierte das Team anschließend einen Algorithmus, welcher bereits anhand der DNA-Sequenz vorhersagen kann, ob ein bestimmter DNA-Abschnitt als Enhancer in Stammzellen fungieren kann oder nicht.
„Es ist besonders praktisch, dass wir unseren Algorithmus nur mit der Enhancer-Aktivität und DNA-Sequenz füttern müssen, um eine Vorhersage zu treffen“, sagt Glaser. „Andere Algorithmen benötigen eine Vielzahl an epigenetischen Datensätzen, die im Labor gewonnen werden müssen.“
Tatsächlich ist es normalerweise notwendig, DNA-Abschnitte mit vermuteten Enhancer-Eigenschaften einzeln im Labor auf ihre Funktionen zu prüfen. In Stammzellen gibt es besonders viele solcher mutmaßlich aktiver Enhancer, was die Untersuchung einzelner Elemente besonders mühsam macht.
„Die FAIRE-STARR-seq zugrundeliegende Methode kann zwar theoretisch für fast alle Zelltypen verwendet werden, um im Genom Enhancer zu finden und ihre Aktivität zu quantifizieren“, sagt Glaser. „Besonders spannend war es aber, Stammzellen zu analysieren, die anfangen sich weiterzuentwickeln und zu spezialisieren.“
Ihre genomweite Landkarte aus Genen, Enhancern und den detaillierten Berg-und-Tal-Informationen hält Meijsing für einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen: „Welche Enhancer welche Gene wann aktivieren und welche Logik dahintersteckt, ist eine der wichtigsten, aber eine größtenteils ungelöste Frage in der Erforschung der Genregulation“, sagt Meijsing. „Unsere Ergebnisse können als Referenz für künftige funktionelle Studien dienen und dabei helfen, Vorhersagemethoden zu verfeinern.“
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Sebastiaan Meijsing
Wissenschaftler
Max-Planck-Einheit für die Wissenschaft der Pathogene
meijsing@molgen.mpg.de
030 28460432
Dr. Laura Viola Glaser
Wissenschaftlerin
Max-Planck-Institut für molekulare Genetik
glaser@molgen.mpg.de
030 8413-1143
Originalpublikation:
Glaser LV, Steiger M, Fuchs A, van Bömmel A, Einfeldt E, Chung HR, Vingron M, Meijsing SH. Assessing genome-wide dynamic changes in enhancer activity during early mESC differentiation by FAIRE-STARR-seq. Nucleic Acids Res. 2021 Nov 24.
doi: 10.1093/nar/gkab1100
Weitere Informationen:
https://www.molgen.mpg.de/4472061/ – Webversion dieser Meldung auf der Seite des MPIMG
https://dx.doi.org/10.1093/nar/gkab1100 – Originalpublikation