Rechte Christen instrumentalisieren Theologie für ihre Gesellschaftsordnung
Schriften wie die Dietrich Bonhoeffers werden laut Wissenschaftlern von Neurechten für eigene Zwecke genutzt – Theologe Arnulf von Scheliha sieht Rückgriff auf veraltete theologische Positionen – „Solchen Vereinnahmungen müssen wir auch am Gedenktag für NS-Opfer am 27. Januar widersprechen“ – Rechter Blick auf Muslime mit „Traditionsneid“
Neurechte Christen nutzen zur Begründung ihrer politischen Positionen Forschungen zufolge theologische Einsichten wie die des Pfarrers und NS-Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. „Damit legitimieren sie ihr Streben nach einer antipluralen Gesellschaftsordnung, die sie früheren Epochen zuschreiben. Diese Ordnung hat es aber so nie gegeben. Dass in der Politik von rechts solche religiösen Impulse wirksam sind, findet bisher wenig Beachtung“, sagt der Sozialethiker und evangelische Theologe Prof. Dr. Arnulf von Scheliha vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. Die Vertreter der Neuen Rechten konstruierten Traditionslinien bis hin zu Martin Luther, der aber einseitig verstanden werde. Eine Schlüsselrolle spiele das Denken nationalkonservativer Theologen wie Emanuel Hirsch (1888-1972) und Paul Althaus (1888-1966), die in der Weimarer Republik eine verhängnisvolle Rolle gespielt und dazu beigetragen hätten, dem Nationalsozialismus den Boden zu bereiten. „Diese Rezeption ist alarmierend und darf, auch am bevorstehenden Gedenktag für NS-Opfer am 27. Januar, nicht unwidersprochen bleiben. Sie verlangt nach selbstkritischer Befassung mit solchen Traditionen.“
Der Wissenschaftler hat das Buch „Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik“ gemeinsam mit Johann Hinrich Claussen, Martin Fritz, Andreas Kubik und Rochus Leonhardt im Verlag Mohr Siebeck vorgelegt, das einer solchen „Selbstprüfung“ protestantischer Theologiegeschichte dienen soll. „Neurechte Christen inszenieren sich als Widerstand gegen eine moderne, plurale und individualistische Gesellschaft“, führt Arnulf von Scheliha aus. Sie berufen sich auf Theologen wie Hirsch und Althaus, die sich für eine Ständegesellschaft und für ein autoritäres politisches Regime ausgesprochen hätten: „Nach Emanuel Hirsch etwa dient Religion der Bindung der Menschen an das Volk, wobei jedem Volk ein fester Platz auf der Erde zugewiesen sei. Paul Althaus sieht in der Vielzahl der Völker einen göttlichen Schöpferreichtum. Damit legitimieren rechte Christen ihren Ethnopluralismus, nach dem die in Völker eingeteilten Menschen sich nicht vermischen sollen.“ Der Forscher sprach im Themenjahr „Tradition(en)“ am Exzellenzcluster, das den Wandel von Traditionen beleuchtet (http://go.wwu.de/yd3ey).
Neue Rechte seit 2015 zu beobachten – darunter christliche Gruppen
Ihre Kritik an modernen Gesellschaften begründen Rechte mit der Vorstellung von einer festen Schöpfungsordnung, wie Arnulf von Scheliha darlegt. Dies habe in der evangelischen Theologie eine lange Tradition, von der auch der junge Dietrich Bonhoeffer nicht frei gewesen sei. „Rechte Christen eignen sich diese Vorstellungen heute an, reißen sie aus dem damaligen Denkzusammenhang und empfehlen sie für die Gegenwart. Dazu gehören neben dem klassischen Ehe- und Familienverständnis die ständische Gliederung der Gesellschaft und die Einteilung der Menschen in unterschiedliche Völker, fest verteilt über den Erdball.“ Dies alles sei von Gott gefügt und damit unveränderlich. Das Grundgesetz werde ähnlich ausgelegt: „Rechte lesen es als Gründungsdokument des deutschen Nationalstaates, dessen oberste Priorität die Wahrung der deutschen Identität und Souveränität sein soll. Grundrechte sind nachrangig“, so Arnulf von Scheliha.
Die Neue Rechte ist nach den Worten des Wissenschaftlers in Deutschland als Variante des europäischen Rechtspopulismus seit den Flüchtlingszuwanderungen 2015/16 erkennbar. „Sie bildet die Brücke zwischen Konservatismus und gewaltbereitem Rechtsextremismus.“ Innerhalb dieser Strömung bewegten sich religiöse Gruppierungen, die ihre politische Meinung auch theologisch zu unterfüttern versuchten. „Dabei blenden sie den historischen Kontext der genannten Schriften und die zwischenzeitliche Lerngeschichte der Theologie aus. Neurechte vertreten eine völlig überholte Theologie“, so der Sozialethiker. Das gelte es mit bewährten historisch, politologisch und soziologisch informierten Methoden der Theologie aufzudecken.
„Traditionsneid gegenüber Muslimen“
„Der Islam gilt Neurechten als Feind des christlichen Abendlandes, das sich gegen ihn zur Wehr setzen muss“, sagt Arnulf von Scheliha. Zugleich bewirke die neurechte Kritik am liberalen Verständnis des Christentums, das in ihren Augen auch von den Amtskirchen vertreten wird, eine Art Traditionsneid gegenüber Muslimen, deren Religion zur Rollenverteilung in Ehe und Familie sowie zum Verhältnis von Religion und Politik aus ihrer Sicht klare Vorgaben mache. „Der Ethnopluralismus kann also traditionelleren Gesellschaftsvorstellungen in anderen Kulturen etwas abgewinnen. Das ist aber nicht mit Toleranz zu verwechseln.“ Für Rechte sei entscheidend, dass sich die Völker und Religionen nicht vermischten: „Migration gilt als Verstoß gegen die Schöpfungsordnung. Menschenrechte werden zugunsten einer nationalistischen Staatsidee in Frage gestellt. Dadurch entstehen krasse Feindbilder.“ Allerdings spielten im Vergleich zur alten Rechten hegemoniale Fragen aktuell keine signifikante Rolle, sie wurden vom Konzept des Ethnopluralismus abgelöst.
Arnulf von Scheliha sieht zudem eine gewisse Koalition von katholischen und evangelischen Neurechten, die sich aus Modernitätskritik und Islamophobie speise. „Rechte Katholiken lehnen etwa das Zweite Vatikanische Konzil ab, das in den 1960er Jahren die katholische Kirche modernisierte, und befürworten die lateinische Messe. Die evangelischen Christen stützen sich auf die konservative Seite Martin Luthers.“ Zum Geschichtsbild von Neurechten führt der Forscher aus: „Sie orientieren sich an einem idealisierten Verständnis des Mittelalters und an den autoritären Strukturen des Kaiserreiches im 19. Jahrhundert, in denen der deutsche Nationalstaat verwirklicht gewesen sei. Dabei ignorieren sie die damals herrschenden antagonistischen Kräfte in der Gesellschaft, zu denen insbesondere die Schere zwischen den vermögenden Bürgern und verarmten Arbeitern, aber auch der konfessionelle Gegensatz zwischen evangelischen und katholischen Menschen gehörte.“
Im Umgang mit rechten Christen empfiehlt Arnulf von Scheliha die diskursive Auseinandersetzung. „Es gibt keine allgemeingültige Instanz, die darüber entscheidet, was als christlich zu bewerten ist und was nicht“, so der Sozialethiker. „Dies kann nur in der kritischen Auseinandersetzung auch mit theologischen Positionen geschehen, die wir für überwunden hielten. Ihrer Renaissance müssen wir uns als wissenschaftliche Theologie stellen.“ (apo/vvm)
Originalpublikation:
Claussen, Johann Hinrich/ Fritz, Martin/ Kubik, Andreas/ Leonhardt, Rochus/ Scheliha, Arnulf von: Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik. Tübingen: Mohr Siebeck 2021.
Weitere Informationen:
https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2022/PM_Rechte_Christen.html