Vom inneren Kompass der Vögel bis zur Vorgeschichte der russischen Revolution: 13 neue Fellows kommen ans HWK
13 Fellows aus acht Ländern kommen für 3-10 Monate ans Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) nach Delmenhorst. Sie erforschen unter anderem die Fähigkeit von Vögeln, das Erdmagnetfeld zur Orientierung zu nutzen, die meereswirtschaftlichen Gefahren, die von giftigen Algen ausgehen, und die Vorgeschichte der russischen Februarrevolution 1917. Das HWK ermöglicht ihnen die Zusammenarbeit mit den Unis Bremen, Oldenburg, Osnabrück und Potsdam, dem Alfred-Wegener-Institut, Senckenberg am Meer und der Gesellschaft f. wirt. Strukturförderung. Ein Fellow erforscht in einem von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekt am Oldenburgischen Staatstheater die Auswirkungen der Digitalität auf das Theater.
Im Themenfeld BRAIN & MIND:
- Dr. Marta Majewska (Polish Academy of Sciences, Polen) untersucht die Rolle des Proteins Cryptochrome4 (Cry4) für die Navigationsfähigkeit von Zugvögeln. Das Protein ist für die bemerkenswerte Orientierungsfähigkeit mancher Arten mitverantwortlich, da es in ihren Augen magnetempfindliche Radikalpaare bildet, die mit dem Erdmagnetfeld interagieren. Damit der innere Kompass funktioniert, müssen sich die Proteine in der Zelle ausrichten. Dr. Majewska erforscht diese Fähigkeit, um die Funktion der Magnetorezeption und damit die Fähigkeit von Vögeln, sich weltweit zu orientieren, besser zu verstehen.
- Prof. Dr. Silke Schicktanz (Universitätsmedizin Göttingen, Deutschland) erforscht die ethischen Aspekte KI-gestützter Assistenztechnologien in der Pflege dementer Menschen. Sie interessiert, inwieweit diese Technologien Patienten und Pflegekräften ein höheres Maß an Kontrolle über Leben und Arbeiten verleihen und so Abhängigkeit reduzieren können. Zu ihrer Arbeit gehören auch Interviews mit Laien und Experten zu ihren Einstellungen gegenüber solchen Systemen. Dr. Schicktanz will herausfinden, wie die Zusammenarbeit von Menschen und Pflegerobotern verbessert werden kann. Dazu arbeitet sie mit Forscherinnen und Forschern aus der Medizinethik und Technik an der Universität Oldenburg zusammen.
Im Bereich EARTH:
- Prof. Dr. Juan Manuel García-Ruiz (Universidad de Granada, Spanien) erforscht Biomorphe, das heißt künstliche Gebilde, die biologischen Formen ähneln, und vergleicht diese mit kristallinen Strukturen. Kristalle faszinieren ihn, da sie grundsätzlich eine symmetrische Struktur aufweisen, aber dennoch organismusähnliche Formen annehmen können. Jahrtausendelang symbolisierten Kristalle für den Menschen Perfektion, Rationalität und Ordnung im scheinbaren Chaos sonst eher unregelmäßiger natürlicher Formen. Als solche haben Kristalle seit jeher sowohl sein wissenschaftliches als auch künstlerisches Interesse geweckt. Für Prof. García-Ruiz ist die Grenze zwischen Struktur und Chaos, Rationalität und Sinnlichkeit nicht so scharf zu ziehen, wie gemeinhin angenommen. Er erforscht daher die physikalischen und chemischen Prozesse zur Bildung dieser faszinierenden Strukturen sowie die kulturhistorische Geschichte der Kristalle und ihren Einfluss auf Wissenschaft und Kunst.
- Prof. Dr. Manfred Lenzen (University of Sydney, Australien) forscht über die Zukunft menschlichen Lebens innerhalb der biophysikalischen Grenzen des Planeten. Die Störung geochemischer und biologischer Kreisläufe durch den Menschen erreicht Ausmaße, die mit denen der natürlichen Prozesse vergleichbar sind. Außerdem gibt es derzeit kein Land, das dazu in der Lage wäre, die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung innerhalb global nachhaltiger Ressourcengrenzen zu erfüllen. Eine Prüfung des verbreiteten Wachstumsparadigmas erscheint daher unausweichlich. Es gibt jedoch keine quantitativen Szenarien, die einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Übergang zu einem wachstumsreduzierten Entwicklungsparadigma abbilden und zukunftstaugliche Strategien begründen könnten. Prof. Lenzen erforscht die methodischen Grundlagen der Entwicklung neuer Möglichkeiten der Modellierung solcher Szenarien.
- Assoc. Prof. Dr. Shauna Murray (University of Technology Sydney, Australien) erforscht Dinoflagellaten, eine Mikroalgengruppe, die unter bestimmten Bedingungen hochgiftige Verbindungen produzieren kann. Das Nervengift Saxitoxin (STX) wird von den Vereinten Nationen als Chemiewaffe eingestuft. Da es sich in Meeresfrüchten anreichern kann, sind beispielsweise Fischerei und Aquakultur entlang der Ostküste Australiens bereits durch eine einzige Algenblüte erheblich gefährdet. Prof. Murray interessiert sich insbesondere für die Entstehung von Unterschieden verschiedener Stämme der Art Alexandrium pacificum einschließlich ihrer Toxizität. Von ihrer Forschung erhofft sich Prof. Murray Erkenntnisse für die Entwicklung eines Frühwarnsystems, das Algenblüten und ihre Toxizität in Australiens größter Muschelzuchtregion vorhersagen kann.
- Prof. Dr. John L. Wilkin (Rutgers University, USA) nutzt Erdbeobachtungssatelliten, welche die Farbe des Ozeans bei verschiedenen Wellenlängen des sichtbaren Lichts darstellen und so Muster identifizieren können. Prof. Wilkin verknüpft diese Farbdaten mit Computermodellen, um die Zusammensetzung von Meerwasser anhand von Absorption, Streuung und Reflexion des Lichts durch Plankton, organische Stoffe und Sedimente differenziert abbilden und Aussagen über Ökosystemmerkmale treffen zu können. Dabei stehen die Wechselbeziehungen zwischen biologischen und physikalischen Gegebenheiten sowie Farbstrukturen der Satellitenbilder im Vordergrund. Von seiner Forschung erhofft er sich Rückschlüsse auf die Merkmale des Ökosystems und die zugrundeliegenden Muster der Meeresströmungen.
Im Themenfeld ENERGY:
- Prof. Dr. Stefan Heinz (University of Wyoming, USA) untersucht die Turbulenzen, die bei der Nutzung von Windenergie in Windparks enstehen und deren Effizienz beeinflussen können. Die mathematische Analyse dieser Luftströmungen stellte bislang eine große Herausforderung dar. Dr. Heinz hat eine exakte Lösung für die Kombination bestehender Berechnungsmethoden entwickelt, die großes Potenzial besitzt, zuverlässigere Vorhersagen zu erlauben. Das Ziel seines Projekts ist es, die Vorteile des neuen Forschungsansatzes für Windenergiesimulationen zu demonstrieren. So könnte zukünftig die Effizienz von Windparks gesteigert werden.
- Prof. Dr. Sutapa Mondal Roy (Uka Tarsadia University, Indien) interessiert sich für die Möglichkeit, einzelne Atome oder Moleküle so zu manipulieren, dass nanostrukturierte Materialien entstehen, die kleiner als eine menschliche Zelle sind. Ihr Projekt zielt auf eine experimentelle und theoretische Untersuchung ab, die einen Mechanismus der Wechselwirkung zwischen zwei etablierten nanostrukturierten Materialien, den Metalloxiden ZnO und MgO, und Biomolekülen wie DNA-Basen und Aminosäuren identifizieren soll. Ihre Forschung soll dazu beitragen, die biologische Aktivität von nanostrukturierten Materialien besser zu verstehen, wovon sich Dr. Mondal Roy einen Beitrag zur Entdeckung neuer Arzneimittel erhofft.
Im Bereich SOCIETY:
- Prof. Dr. Semion Lyandres (University of Notre Dame, USA) erforscht die Vorgeschichte der russischen Revolution 1917. Das von ihm geplante Buch stützt sich auf bisher nicht zugängliche Archivquellen, mit deren Hilfe Lyandres untersuchen will, wie vorrevolutionäre Ideen die revolutionäre Politik prägten. Außerdem ist er der Ansicht, dass die Wirkungen der Februarrevolution in erheblichem Maße über das Jahr 1917 hinausreichen, da viele der von ihr eingeführten Institutionen, Praktiken und Einstellungen bis in die Gegenwart überdauern. Sein Buch versucht daher auch, Russlands gescheiterten Übergang zur Demokratie im Jahr 1917 und dessen globalen Auswirkungen auf moderne und zeitgenössische Revolutionen, einschließlich Osteuropa und den Arabischen Frühling, zu erklären.
- Dr. Nikolaos Mavropoulos (Griechenland) untersucht die Auswanderung von Griechen aus Griechenland nach Afrika aufgrund wirtschaftlicher Not. Griechen, die ihr Heimatland im 19. Jahrhundert verließen, ließen sich auch an den Mittelmeerküsten Nordafrikas und am Roten Meer nieder, wo sie sich als Untertanen der italienischen Kolonialherrschaft wiederfanden. Dr. Mavropoulos untersucht das Selbstverständnis der ausgewanderten Menschen und wie sich dieses unter den Bedingungen des Lebens in der italienischen Kolonie Eritrea entwickelte. Seine Untersuchung beginnt 1869, als Italien die Siedlung Assab am Roten Meer besetzte, und endet mit dem Untergang von Italienisch-Ostafrika 1941.
- Prof. Dr. Hilary Silver (George Washington University, USA) untersucht die wechselvolle Geschichte der deutschen Willkommenskultur gegenüber Migrantinnen und Migranten, ihre Entstehung und die Gegenbewegung des nationalistischen Populismus. Ihre Studie kontrastiert die zwei Berliner Bezirke Neukölln im Westen und Lichtenberg im Osten und ihre sehr unterschiedlichen Beziehungsmuster zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Neuankömmlingen. Sie konzentriert sich auf die nachbarschaftlichen Prozesse der Integration und die lokalen Herausforderungen für den sozialen Zusammenhalt. Auf der Grundlage von zehn Jahren vergleichender Ethnographie wird das geplante Buch von Konflikten und Anpassungsbestrebungen in den Bereichen Wohnen, Schulen, öffentliche Dienstleistungen, Kriminalität und gemeinsamen öffentlichen Räumen berichten.
Im Bereich ARTS & LITERATURE:
- Kevin Barz (Mainfranken Theater, Deutschland) möchte mit seinem Theaterprojekt "Technical Ballroom - Das Theater der Digital Natives" am Oldenburgischen Staatstheater die aus der Corona-Pandemie gewonnenen Erfahrungen mit der Digitalität weiterentwickeln. Im Rahmen seines von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekts will er ein multimediales Bühnen- und IT-Kunstprogramm schaffen. Statt das Analoge, also die räumliche Situation zwischen Publikum und Schauspieler, ins Digitale zu übertragen, konzentriert er sich auf die Übersetzung des Digitalen ins Analoge: Wie können digitale Medien zu neuen bühnentechnischen Mitteln werden? Dazu wird Kevin Barz in der Exerzierhalle des Staatstheaters eine technisch aufwändige Bühne entwickeln.
Bildmaterial und Gesprächstermine auf Anfrage.
Pressekontakt
Bijan Kafi
Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit/
Head of Communications
Hanse-Wissenschaftskolleg (Institute for Advanced Study)
Lehmkuhlenbusch 4
27753 Delmenhorst
Fon: +49 (0) 4221 9160-171
email: bkafi[at]hanse-ias.de
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Michael Kastner, Forschungsbereich ENERGY, mkastner@hanse-ias.de
Dr. Doris Meyerdierks, Forschungsbereich EARTH, dmeyerdierks@hanse-ias.de
Dr. Dorothe Poggel, Forschungsbereiche BRAIN & MIND und ARTS & LITERATURE, dpoggel@hanse-ias.de
Wolfgang Stenzel, Forschungsbereich SOCIETY, wstenzel@hanse-ias.de