Das bewusstlose Gehirn ist alles andere als «stumm»
Die Grosshirnrinde gilt als zentrale Hirnregion für bewusste Verarbeitung. Während einer Vollnarkose wird dieser Bereich jedoch nicht lahmgelegt: Bestimmte Neurone zeigen dann sogar eine höhere Spontanaktivität als im wachen Zustand, und diese Aktivität ist über alle diese Zellen hinweg synchronisiert. Ein besseres Verständnis der neuronalen Mechanismen während der Vollnarkose könnte zu effizienteren Narkosemitteln und besseren Operationsergebnissen führen.
Basel, 12. Mai 2022 Wissenschaftler aus der Forschungsgruppe von Prof. Dr. Botond Roska vom Institute of Molecular and Clinical Ophthalmology Basel (IOB) und der Universität Basel haben durch Versuche mit Mäusen herausgefunden, wie verschiedene Zelltypen in der Hirnrinde ihre Aktivität während einer Vollnarkose verändern. Mit ihren Ergebnissen, die kürzlich in der Fachzeitschrift «Neuron» erschienen sind, tragen sie zum Verständnis bei, wie genau Bewusstlosigkeit durch Anästhesie ausgelöst wird.
Stellen Sie sich vor: Sie liegen auf dem Operationstisch. Die Ärztin sagt Ihnen, dass Sie bis fünf zählen sollen, und setzt Ihnen eine Narkosemaske aufs Gesicht. Bei vier haben Sie bereits das Bewusstsein verloren und wachen erst nach der Operation wieder auf. Was ist in der Zwischenzeit in Ihrem Gehirn vorgegangen? Man würde vermuten, dass die Zellen im Gehirn verstummen – vor allem in der Hirnrinde (Kortex), die als Sitz der bewussten Wahrnehmung gilt. Seit fast 100 Jahren weiss man jedoch, dass einige Zellen im Kortex auch während der Bewusstlosigkeit durch Anästhesie aktiv sind und dass diese Hirnregion während der Vollnarkose zwischen Phasen mit hoher und niedriger Aktivität wechselt. Ein Elektroen-zephalogramm (EEG), bei dem Elektroden auf der Kopfhaut ang-ebracht werden, ist eine der wenigen Methoden zur Messung dieser Aktivität. Aber ein EEG erlaubt nicht, die Zellen zu identifizieren, die diese Aktivität auslösen. Daher blieb bisher die Frage offen, welche Zellen an der rhythmischen Aktivität der Hirnrinde beteiligt sind und wie dies zum Verlust des Bewusstseins während einer Vollnarkose beiträgt.
Auf den Spuren der Bewusstlosigkeit
Die Hirnrinde besteht aus mehreren Zelltypen mit unterschiedlichen Funktionen. Verschiedene Narkosemittel wirken auf diverse Rezeptoren, die sich auf unter-schiedlichen Arten von Neuronen befinden und über das gesamte Gehirn verteilt sind. Trotz dieser Unterschiede führen alle Narkosemittel zum Verlust des Bewusst-seins, und so «waren wir daran interessiert herauszufinden, ob es einen gemeinsamen neuronalen Mechanismus für verschiedene Narkosemittel gibt», sagt Dr. Martin Munz, einer der drei Erstautoren der Studie.
Um dieser Frage nachzugehen, wendeten die Forschenden moderne genetische Werkzeuge bei Mäusen an, bei denen einzelne kortikale Zelltypen markiert sind. Das Forschungsteam fand heraus, dass im Gegensatz zu früheren Vermutungen nur ein bestimmter Nervenzelltyp im Kortex eine erhöhte Aktivität zeigte, wenn das Tier verschiedenen Anästhetika ausgesetzt war. «Jedes Anästhetikum induziert einen Aktivitätsrhythmus in den Pyramidenzellen der Schicht 5», sagt Dr. Arjun Bharioke, ebenfalls Erstautor der Studie. «Interessanterweise unterschieden sich diese Rhythmen je nach Narkosemittel. Einige waren langsamer, andere schneller. Allen Narkosemitteln gemeinsam war aber, dass sie eine Synchronisierung der Aktivität bewirkten. Das heisst, wenn sie aktiv waren, waren alle Pyramiden-neuronen der Schicht 5 gleichzeitig aktiv.» Pyramidenzellen der Schicht 5 dienen als wichtiges Ausgabezentrum für die Grosshirnrinde und verbinden ausserdem verschiedene kortikale Bereiche miteinander. Sie kommunizieren also sowohl zwischen verschiedenen Bereichen des Kortex als auch von der Hirnrinde zu anderen Bereichen des Gehirns. Daher schränkt eine Synchronisierung der Aktivität der Pyramidenzellen der Schicht 5 die Informationen ein, die der Kortex ausgeben kann.
Wie Zuschauer beim Fussballmatch
«Es scheint, dass während der Narkose alle Pyramidenneuronen der Schicht 5 dieselbe Information senden, anstatt dass jedes Neuron unterschiedliche Infor-mationen sendet», sagt Arjun Bharioke. Man könne sich das wie eine Zuschauer-menge bei einem Fussballspiel vorstellen: Bevor das Spiel beginnt, gibt es viele unabhängige Gespräche. Während des Spiels hingegen feuern alle Zuschauer-innen und Zuschauer ihre Mannschaft an. Es gibt also nur eine einzige Information, die über die Zuschauermenge übertragen wird. In früheren Arbeiten hatten Forschende bereits angedacht, dass der Bewusstseinsverlust durch die Abtren-nung der Hirnrinde vom Rest des Gehirns eintritt. Die Ergebnisse des Basler Forschungsteams deuten auf einen Mechanismus hin, durch den dies geschehen könnte – durch eine verminderte Informationsausgabe des Kortex während der Narkose.
«Narkosemittel sind sehr wirkungsvoll, wie jeder bestätigen kann, der schon einmal eine Operation mitgemacht hat», so Alexandra Brignall, ebenfalls Erstautorin der Studie und von Beruf Tierärztin. «Sie sind jedoch nicht immer einfach zu handhaben. Während einer Operation muss man die Tiefe der Narkose ständig überwachen, um sicherzustellen, dass der Patient nicht zu tief oder zu flach betäubt wird. Je mehr wir wissen, wie Narkosemittel wirken und was sie im Gehirn bewirken, desto besser.» Vielleicht helfe dies, neue Medikamente zu entwickeln, die gezielter auf die Zellen im Gehirn wirken, die mit Bewusstlosigkeit zusammen-hängen. «Unsere Ergebnisse sind für die Medizin von grosser Bedeutung, da die Anästhesie eines der am häufigsten durchgeführten medizinischen Verfahren ist», so Studienleiter Botond Roska. Das Verständnis des neuronalen Mechanismus der Anästhesie könnte zu besseren Narkosemedikamenten und besseren chirurgischen Ergebnissen führen.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Arjun Bharioke, Martin Munz, Botond Roska
Originalpublikation:
General anesthesia globally synchronizes activity selectively in layer 5 cortical pyramidal neurons
Arjun Bharioke, Martin Munz, Alexandra Brignall, Georg Kosche, Max Ferdinand Eizinger, Nicole Ledergerber, Daniel Hillier, Brigitte Gross-Scherf, Karl-Klaus Conzelmann, Emilie Macé, Botond Roska
2022, Neuron 110, 1–17
https://doi.org/10.1016/j.neuron.2022.03.032
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