Amyotrophe Lateralsklerose (ALS): Was Rotwein mit einer künftigen Therapie zu tun haben könnte
Tübinger Forschende entdecken grundlegenden Mechanismus der Krankheitsentstehung – eine Rotweinsubstanz reguliert ein wichtiges Enzym und könnte Ansatz für künftige ALS-Therapie sein
Dem Rotwein werden einige gute Wirkungen zugeschrieben. Nun rückt einer seiner Inhaltsstoffe auch in das Blickfeld von Tübinger Hirnforschenden, die einen Therapieansatz für die Erkrankung Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, untersuchen. Sie haben einen grundlegen Mechanismus entschlüsselt, der bei der Entstehung der ALS eine Rolle spielt. Bei der Erkrankung sterben Nervenzellen, weil in ihrem Inneren ein Protein verklumpt und dadurch lebenswichtige Zellabläufe stört. Das Forschungsteam beschreibt nun einen biochemischen Prozess, der diese Verklumpung auslöst. Er wird in der Zelle von dem Enzym Sirtuin-1 reguliert. Die Menge an Sirtuin-1 wiederum lässt sich durch die Zugabe von Resveratrol steigern, einer Substanz, die natürlicherweise in Weinbeeren vorkommt. Sollten sich die Erkenntnisse in weiteren Studien bestätigen, könnte der Wirkstoff aus dem Wein Ansatzpunkt für eine mögliche Therapie sein. Das Team um Professor Dr. Philipp Kahle vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, der Universität Tübingen und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen hat die Studie in Nature Communications veröffentlicht.
Die Amyotrophe Lateralsklerose ist vielen durch das Schicksal des Physikers Stephen Hawking oder durch die „Ice Bucket Challenge“ im Sommer 2014 bekannt. Eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Krankheit spielt ein kurz als TDP-43 bezeichnetes Protein. Es befindet sich normalerweise im Zellkern und ist an der Umsetzung der genetischen Information aus der DNA in Proteine beteiligt.
Bei der ALS-Erkrankung sammelt sich das TDP-43 Protein in großen Klumpen in Nervenzellen an. „Durch die Verklumpungen ist der reguläre Zellbetrieb gestört und die betroffenen Zellen gehen langfristig zugrunde“, erklärt Studienleiter Kahle. Sind ganze Zellgruppen abgestorben, führt das zu dem charakteristischen Krankheitssymptom: einer zunehmenden Muskelschwäche, die bis zu einer vollständigen körperlichen Lähmung führen kann.
Mit der aktuellen Studie wollte das Forschungsteam verstehen, wie es zu den schädlichen Proteinansammlungen kommt. Um die molekularen Prozesse in der Petrischale genauer zu untersuchen, nutzten sie biochemische Methoden und mikroskopische Bildgebung. Dabei entdeckten sie den gesuchten Mechanismus: Die Verklumpung wird ausgelöst, wenn an einer bestimmten Stelle in TDP-43 eine sogenannte Acetylgruppe eingefügt wird. Dieser Prozess wird von Fachleuten auch Acetylierung genannt.
„Die Acetylierung eines Proteins ist ein gängiger Mechanismus, um seine Funktion zu regulieren“, erklärt Erstautor Jorge Garcia Morato. „Das scheint auch hier der Fall zu sein. Trägt TDP-43 eine Acetylgruppe, löst es seine bisherige Bindung mit der mRNA und fängt stattdessen an, sich an andere TDP-43 Proteine zu binden. Auf diese Weise sammeln sich die schädlichen Eiweißklumpen in der Zelle an.“
Die zweite wichtige Erkenntnis der Tübinger Studie ist, dass das Forschungsteam die Acetylgruppe durch Zugabe von Sirtuin-1 entfernen konnte. „Sirtuin-1 ist ein Enzym, das an vielen Zellprozessen beteiligt ist. Seine Aktivität können wir mit bekannten Wirkstoffen kontrollieren“, freut sich Garcia Morato.
„Der berühmteste Wirkstoff ist Resveratrol“, ergänzt Kahle. Die natürliche Substanz aus Weinbeeren wurde bereits vielfach auf mögliche positive Effekte bei Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alzheimer und manchen Autoimmunkrankheiten sowie ein langes Leben untersucht, bisher allerdings mit uneinheitlichen Ergebnissen.
Die neuen Erkenntnisse des Tübinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind für alle neurodegenerativen Erkrankungen bedeutend, deren Entstehung mit Verklumpungen des Proteins TDP-43 in Zusammenhang gebracht werden. Neben ALS ist dies bei der Frontotemporalen Demenz und manchen Alzheimer-Formen der Fall.
Die Forschenden versuchen nun, die Studienergebnisse in post-mortem Gewebe von Patientinnen und Patienten zu bestätigen. „Bis die Ergebnisse von der Petrischale in die klinische Praxis übertragen werden können, sind noch viele Untersuchungen nötig“, sagt Kahle. „Dann werden wir wissen, ob neben dem Geschmack vielleicht noch mehr im Rotwein steckt.“
An der Studie waren neben den beiden genannten Autoren außerdem Dr. Regina Feederle, Professorin Dr. Manuela Neumann, Dr. Johannes Gloeckner und Felix von Zweidorf vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Dr. Friederike Hans und Dr. Angelos Skodras vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung sowie Dr. Simon J. Elsasser vom Karolinska Institut in Schweden und Professor Dr. Emanuele Buratti vom International Centre for Genetic Engineering and Biotechnology in Italien beteiligt.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Philipp Kahle
Universität Tübingen
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurodegenerative Erkrankungen
Otfried-Müller-Straße 27
72076 Tübingen
Telefon +49 7071 29-81970
philipp.kahle[at]uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Garcia Morato, Jorge et al. (2022): Sirtuin-1 sensitive lysine-136 acetylation drives phase separation and pathological aggregation of TDP-43, Nature communications, 13,1, 1223.
doi: 10.1038/s41467-022-28822-7
Weitere Informationen:
http://www.hih-tuebingen.de Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
https://uni-tuebingen.de Eberhard Karls Universität Tübingen
https://www.dzne.de Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)