Bestimmen Darmbakterien, ob ein Medikament wirkt?
Interview mit Dr. Michael Zimmermann, Biochemiker am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg und Stipendiat der Daimler und Benz Stiftung
Falls bei Ihnen ein Medikament weniger gut anschlägt als bei einer anderen Person, könnte es an Ihrer persönlichen Darmflora liegen. Das sogenannte Mikrobiom unterscheidet sich nämlich erheblich von Mensch zu Mensch und scheint eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit von Arzneimitteln zu spielen. Denn Darmbakterien sind in der Lage, Wirkstoffe zu aktivieren oder auch zu deaktivieren – umgekehrt verändern Medikamente wiederum die Zusammensetzung des Mikrobioms. Diesen Zusammenhängen geht der Biochemiker Michael Zimmermann vom Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg nach. Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit ist, dass Patienten künftig nach Analyse ihrer Darmflora für sie persönlich geeignete Medikamente erhalten. Sein Forschungsprojekt wurde im Rahmen des Stipendienprogramms für Postdoktoranden und Juniorprofessoren der Daimler und Benz Stiftung über zwei Jahre mit einer Summe von 40.000 Euro gefördert.
Stiftung: Herr Dr. Zimmermann, Sie erforschen, wie Medikamente und Bakterien im menschlichen Darm wechselwirken. Wie neu ist dieser Ansatz und seit wann ist überhaupt bekannt, dass hier ein Zusammenhang besteht?
Zimmermann: Tatsächlich steht das Darmmikrobiom erst seit zwei Jahrzehnten im Fokus der Wissenschaft. Das hat vor allem mit technologischen Entwicklungen zu tun, etwa der Möglichkeit automatisierter DNA-Sequenzierungen innerhalb kurzer Zeit. Die Vorstellung, dass die Darmflora die Wirkung von Medikamenten beeinflusst, besteht allerdings schon länger; vor 50 Jahren gab es sogar eine erste wissenschaftliche Konferenz dazu. Heute können wir diese Zusammenhänge genauer erforschen – und zwar mit Blick auf eine personalisierte Medikamentengabe für Patienten.
Stiftung: Könnten Sie den damaligen Wissensstand näher beleuchten?
Zimmermann: In den 1930er-Jahren wurde das Antibiotikum Prontosil entwickelt, das bis Mitte des letzten Jahrhunderts verbreitet zur Behandlung von Infektionen eingesetzt wurde. Interessanterweise zeigte es jedoch nur geringe inhibitorische Effekte bei Experimenten im Reagenzglas. Es stellte sich heraus, dass das Antibiotikum durch die Darmbakterien metabolisiert wird und dadurch erst seine Wirksamkeit erhält. Ein Beispiel für eine gegenteilige Wirkung ist das Herpesmedikament Sorivudin: Anfang der 1990er-Jahre musste es aufgrund einer Interaktion mit einem Krebsmedikament vom Markt genommen werden, weil mehrere Patienten starben. Die Ursache hierfür lag in der Zusammensetzung ihrer Darmflora; durch die Abbauprodukte kam es zu einer unvorhergesehenen Überdosierung bzw. Toxizität des Krebsmedikaments.
Stiftung: Um welche Größenordnungen geht es, wenn wir über die Bakteriengemeinschaften im Darm sprechen?
Zimmermann: Unser Körper ist stark besiedelt, und zwar mit mindestens so viel Mikroben wie wir eigene Körperzellen besitzen. Noch drastischer ausgedrückt: Wir tragen mit zwei bis drei Millionen bakteriellen Genen rund 150-mal mehr mikrobielle Gene in unserem Körper als menschliche.
Stiftung: Und was bedeutet das aus wissenschaftlicher Sicht?
Zimmermann: Das Mikrobiom ist biochemisch faszinierend, es besitzt ein enormes metabolisches Potenzial. Einen Großteil seiner Gene verstehen wir gegenwärtig noch nicht. Physiker würden sagen, es handelt sich um „dunkle Materie“. Und genau die wollen wir erforschen und verstehen. Schließlich ist das Mikrobiom für die Nahrungsaufnahme, den Metabolismus und das Immunsystem relevant. Die Darmbakterien beeinflussen unsere Gesundheit!
Stiftung: Inwiefern unterscheidet sich das Mikrobiom einzelner Menschen? Gibt es auch kulturelle Unterschiede?
Zimmermann: Obwohl wir Menschen uns untereinander genetisch nur weniger als ein Prozent unterscheiden, liegt der Unterschied beim Mikrobiom von Person zu Person bei bis zu 80 Prozent. Das hängt unter anderem von der Ernährung, dem Lebensstil und Vorerkrankungen ab. Dazu kommen geografische Besonderheiten: Die „Verwestlichung“ unserer Nahrung – unser europäisches Essen ist beispielsweise nicht mehr so faserreich wie in anderen Kulturen oder in früheren Epochen – kann für einen Teilverlust des Mikrobioms verantwortlich sein.
Stiftung: Lassen Sie uns über Ihre eigene Forschung sprechen.
Zimmermann: Wir verfolgen unterschiedliche Ansätze, um die genetisch „dunkle Materie“ der Darmflora zu erforschen. Wozu sind die Mikroben biochemisch in der Lage, wie interagieren sie mit Medikamenten? Durch die Grundlagenforschung können wir viel lernen, denn die Evolution der Bakterien ist ursprünglich nicht darauf ausgerichtet, Medikamente in unserem Körper zu verstoffwechseln – dies geschieht erst seit zirka einem Jahrhundert. Darüber hinaus widmen wir uns auch klinischer Forschung, in der wir mit Krankenhäusern zusammenarbeiten. Um molekulare Mechanismen zu verstehen, nehmen wir Kohorten kranker und gesunder Personen, sequenzieren die DNA ihres Mikrobioms und stellen Vergleiche an. Außerdem untersuchen wir, ob es Assoziationen mit bestimmten Krankheiten gibt, und analysieren Interaktionen zwischen Medikamenten und Bakterien. Forschungsgruppen hier am EMBL und weltweit arbeiten dabei an ganz unterschiedlichen Aspekten.
Stiftung: Wie funktioniert das alles im Laboralltag?
Zimmermann: Wir stellen den Metabolismus der Darmbakterien im Labor experimentell nach: In verschiedenen Flüssigkulturen können wir aerobe oder anaerobe Bakterien entweder einzeln oder in Gemeinschaften untersuchen und deren Wechselwirkung mit unterschiedlichen Arzneimitteln testen. Es gibt unglaublich viele Kombinationsmöglichkeiten, weswegen wir mit 96 Kulturen auf kleinen Mikrotiterplatten gleichzeitig arbeiten; das ermöglicht einen hohen Durchsatz. Per DNA-Sequenzierung wird das Erbgut der Bakterien untersucht und durch Massenspektrometrie der chemische Aufbau von Arzneistoffen und bakteriellen Stoffwechselprodukten bestimmt. In Laborexperimenten setzen wir außerdem genetisch veränderte Bakterien ein, um den Einfluss einzelner Stämme auf die Wirksamkeit von Medikamenten zu testen, und nehmen Enzyme sowie die Abbauwege durch die Mikroorganismen in den Blick. Darüber hinaus setzen wir menschliche Zellkulturen sowie keimfreie Mäuse als Modelle ein, um die Effekte der bakteriellen Stoffwechselprodukte auf den jeweiligen Wirt zu untersuchen.
Stiftung: Sie nutzen außerdem Methoden der künstlichen Intelligenz.
Zimmermann: Ja, künstliche Intelligenz hält immer mehr Einzug in die biologische Forschung. Auf Basis unserer gemessenen Interaktionen zwischen Arzneimitteln und Mikrobiom wollen wir mithilfe von Algorithmen voraussagen, inwieweit ein bestimmtes Medikament durch die jeweiligen Darmbakterien eines Patienten abgebaut oder modifiziert wird. Durch weitere Datenanalysen der weltweiten Mikrobiomforschung wollen wir zudem Muster finden, um auf dieser Basis wiederum die Experimente im Labor zu spezifizieren.
Stiftung: Was ist das Ziel Ihrer persönlichen wissenschaftlichen Arbeit?
Zimmermann: Wir hoffen, dass unsere Erkenntnisse und Ergebnisse in den kommenden Jahren einen wesentlichen Beitrag in der personalisierten Medizin leisten: Patienten sollen nach Abgabe einer Stuhlprobe und Analyse ihres Mikrobioms künftig die für sie geeigneten Medikamente in der richtigen Dosierung erhalten. Kurz gesagt: Die positive Wirkung der Arzneistoffe soll maximal ausgeschöpft und Nebenwirkungen minimiert werden. Umgekehrt lässt sich die Darmflora auch durch gezielte Gaben von Präbiotika (Nahrung für bestimmte Darmbakterien), von gesundheitsfördernden Bakterienstämmen (Probiotika), oder Antibiotika beeinflussen. Auch darüber werden effiziente und individuelle Behandlungen möglich.
Stiftung: Welche Patienten werden von Ihrer Forschung am meisten profitieren?
Zimmermann: Vor allem chronisch Kranke; zum Beispiel Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes, Autoimmunerkrankungen oder psychotischen Störungen – und natürlich Organtransplantierte, bei denen die Einstellung des Immunsystems ja immer eine therapeutische Gratwanderung ist.
Stiftung: Sie sind Stipendiat der Daimler und Benz Stiftung. Inwiefern war das Förderprogramm für Postdoktoranden für Ihren Berufsweg hilfreich?
Zimmermann: Auf der persönlichen Ebene fand ich den interdisziplinären Austausch zwischen den geförderten Wissenschaftlern spannend. Es ist toll, dass die Treffen von der Daimler und Benz Stiftung organisiert werden. Und durch die finanzielle Förderung haben wir die Arbeiten zu den interpersonellen Unterschieden des Mikrobioms verstärkt und vorangebracht – bislang war hier noch relativ wenig bekannt.
Stiftung: Der griechische Arzt Hippokrates soll gesagt haben: „Lass Nahrung deine Medizin sein und Medizin deine Nahrung.“ Ist das nach wie vor gültig?
Zimmermann: Ja, man ist, was man isst. Das wollen wir mit unserer Forschung nicht nur beschreiben, sondern voraussagen! Ein besseres Verständnis der Funktionen und des Stoffwechsels des Darmmikrobioms scheinen dazu ein wichtiger Schlüssel zu sein.
Stipendienprogramm für Postdoktoranden und Juniorprofessoren
Die Daimler und Benz Stiftung vergibt jedes Jahr zwölf Stipendien an ausgewählte Postdoktoranden mit Leitungsfunktion und Juniorprofessoren. Ziel ist, die Autonomie und Kreativität der nächsten Wissenschaftlergeneration zu stärken und den engagierten Forschern den Berufsweg während der produktiven Phase nach ihrer Promotion zu ebnen. Die Fördersumme in Höhe von 40.000 Euro pro Stipendium steht für die Dauer von zwei Jahren bereit und kann zur Finanzierung wissenschaftlicher Hilfskräfte, technischer Ausrüstung, Forschungsreisen oder zur Teilnahme an Tagungen frei und flexibel verwendet werden. Durch regelmäßige Treffen der jungen Wissenschaftler dieses stetig wachsenden Stipendiatennetzwerks fördert die Daimler und Benz Stiftung zugleich den interdisziplinären Gedankenaustausch.
Daimler und Benz Stiftung
Die Daimler und Benz Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung. Dazu richtet sie innovative und interdisziplinäre Forschungsformate ein. Ein besonderes Augenmerk legt die Stiftung durch ein Stipendienprogramm für Postdoktoranden sowie die Vergabe des Bertha-Benz-Preises auf die Förderung junger Wissenschaftler. Mehrere Vortragsreihen sollen die öffentliche Sichtbarkeit von Wissenschaft stärken und deren Bedeutung für unsere Gesellschaft betonen.
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