Wie neue Strukturen entstehen
Säugetiere verfügen über ein neuartiges Gen, das eine neuartige Struktur in den Nervenzellen steuert. Forschende des Max Delbrück Centers und des Milner Centre for Evolution haben es entdeckt und beschreiben es in der Fachzeitschrift „Molecular Biology and Evolution“.
Gemeinsame Pressemitteilung des Max Delbrück Centers und der University of Bath
Die Evolution wird oft als „Bastelprozess“ beschrieben, bei dem bereits vorhandene Fähigkeiten leicht verändert werden. Doch wie entwickeln Organismen völlig neue, bislang nicht dagewesene Strukturen?
Ein Forschungsteam um Dr. Zsuzsanna Izsvák vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) und Professor Laurence Hurst vom Milner Centre for Evolution an der University of Bath (Großbritannien) haben nun Hinweise darauf gefunden, dass ein neuartiges Gen die Entwicklung einer neuen Struktur in Nervenzellen unterstützt. In der Fachzeitschrift „Molecular Biology and Evolution“ beschreiben sie dieses ungewöhnliche Gen namens piggyBac Transposable Element-derived 1, kurz PGBD1.
„Springende Gene“ verursachen Mutationen
PGBD1 ist eins von fünf miteinander verwandten PGBD-Genen, die eine deutliche Ähnlichkeit mit piggyBac-Elementen aufweisen, die zuerst bei Insekten identifiziert wurden – daher auch der Name piggyBac Transposable Element-derived. PiggyBac-Elemente sind „springende Gene“, auch Transposons genannt. Sie sind in der Lage, sich selbst zu kopieren und in andere, teilweise weit entfernte Abschnitte der DNA „hineinzuspringen“. Dabei können sie Mutationen verursachen oder Funktionen verändern. PiggyBac-Transposons sind durch horizontalen Transfer in unsere Spezies gelangt – ähnlich wie manche Viren ihr Genom in unsere DNA integrieren können. Im Lauf der Zeit haben sie ihre Fähigkeit verloren, in unserer DNA herumzuspringen. Fünf von ihnen abgeleitete Gene (PGBD1-5) sind jedoch beim Menschen fixiert worden. „Wir wollten wissen, welche potenziell nützliche Funktion die PGBD-Gene haben könnten“, sagt Zsuzsanna Izsvák. „Dabei haben wir uns auf PGBD1 konzentriert.“
Unter den fünf PGBD-Genen ist PGBD1 insofern einzigartig, als dass es auch Fragmente anderer Gene aufgenommen hat. Dies resultiert in einem Protein, das sowohl an andere Proteine als auch an DNA binden kann. Es ist also zum Teil inaktives Transposon, zum Teil menschliches Genfragment.
PGBD1 reguliert Nervenzellen und deren „Proteinschwämme“
PGBD1 kommt nur in Säugetieren vor. Es ist insbesondere in Zellen sehr aktiv, die zu Nervenzellen werden. Die Forschenden untersuchten zunächst, wo das PGBD1-Protein an die DNA bindet. Sie fanden heraus, dass es sich in Genen und um Gene herum festsetzt, die an der Nervenentwicklung beteiligt sind. Dort blockiert es einerseits Gene, die in reifen Nervenzellen exprimiert werden. Andererseits bleiben die Gene aktiviert, die mit der Entwicklung von neuronalen Vorläuferzellen in Verbindung stehen. Als die Forschenden den PGBD1-Spiegel in den Vornervenzellen absenkten, entwickelten sie sich zu Nervenzellen.
Eines der Gene, die an das PGBD1-Protein binden, erregte ihr besonderes Interesse: NEAT1 kodiert für eine RNA, aus der kein Protein entsteht, sondern Paraspeckles. Das sind winzige, membranlose Strukturen in den Kernen einiger Zellen. Wie ein „molekularer Schwamm“ bewahren sie bestimmte RNA und Proteine auf. Die Wissenschaftler*innen fanden heraus, dass das PGBD1-Protein in den neuronalen Vorläuferzellen an das NEAT1-Gen bindet und es an seiner Arbeit hindert. Vermindert sich das PGBD1, steigt der NEAT1-RNA-Spiegel. Es bilden sich Paraspeckles und die Zellen werden zu reifen Nervenzellen. PGBD1 reguliert also das Vorhandensein oder Fehlen von Paraspeckles und damit die Entwicklung der Nervenzellen.
Evolution ist keine zufällige Bastelei
Am erstaunlichsten ist, dass Paraspeckles wie PGBD1 nur in Säugetieren vorkommt. PGBD1 ist also ein seltenes Beispiel für ein neues Gen, das sich entwickelt hat, um eine neue Struktur zu regulieren, wenn auch eine recht kleine. „Dies ist eine wirklich ungewöhnliche und zufällige Entdeckung“, sagt Co-Letztautorin Zsuzsanna Izsvák vom Max Delbrück Center. „Wir wissen, dass die Duplikation bereits existierender Gene die Evolution neuer Strukturen unterstützen kann. PGBD1 ist aber ein seltenes Beispiel dafür, dass die Evolution mehr ist als zufällige Bastelei. Es zeigt, dass Gene neu entstehen, um neuartige Strukturen zu steuern.“ Spannend sei nun die Frage, ob PGBD1 auch in erwachsenen Neuronen eine Rolle spiele.
Co-Letztautor Laurence Hurst vom Milner Centre for Evolution an der University of Bath ergänzt: „Jetzt, da wir wissen, wie Paraspeckles kontrolliert werden, müssen wir nur noch herausfinden, wie sich diese Struktur selbst entwickelt hat. Dies könnte eine viel schwierigere Aufgabe sein, da sich nicht-kodierende RNAs wie NEAT1 schnell entwickeln und daher im Laufe der Evolution nur schwer zu verfolgen sind.“
Die Kopplung zwischen NEAT1 und PGBD1 könnte auch bei Schizophrenie eine Rolle spielen. NEAT1 wird schon länger mit dieser neurologischen Krankheit in Verbindung gebracht. Das Forschungsteam identifizierte nun einige Mutationen in PGBD1, die auch bei Patient*innen mit Schizophrenie häufig vorkommen. Eine dieser Mutationen verändert das PGBD1-Protein, während andere möglicherweise dessen Menge kontrollieren. „Es ist sicherlich kein Zufall, dass beide Gene an Schizophrenie beteiligt sind“, sagt Erstautor Tamas Raskó, zum Zeitpunkt der Studie Postdoktorand in der Gruppe von Zsuzsanna Izsvák. „Es ist sehr ungewöhnlich, eine Mutation zu finden, die ein Protein verändert, das mit dieser Krankheit gekoppelt ist. Ihre Auswirkungen müssen nun in weiteren Studien untersucht werden.“
Milner Centre for Evolution
Das Milner Centre for Evolution ist eine international führende Forschungseinrichtung, die die Disziplinen Biologie, Gesundheit und Bildung miteinander verbindet. Das Zentrum, das zur Universität Bath im Vereinigten Königreich gehört, hilft bei der Beantwortung einiger der grundlegendsten Fragen der Evolutionsbiologie und nutzt diese Erkenntnisse, um neue technologische und klinische Forschungsanwendungen zu finden. Die Erforschung von Lehrmethoden und ein neuartiges Outreach-Programm tragen dazu bei, das Verständnis der Öffentlichkeit für die Genetik und die Bedeutung des Evolutionsprozesses für das gesamte Leben auf der Erde zu verbessern. Das Milner Centre for Evolution ist nach dem ehemaligen Studenten der Universität Bath, Dr. Jonathan Milner, benannt, der das Gründungskapital für die Gründung und den Aufbau des Zentrums bereitgestellt hat.
Max Delbrück Center
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 60 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organübergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1600 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Zsuzsanna Izsvák
AG Mobile DNA
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center)
Tel.: +49 30 9406-3510
zizsvak@mdc-berlin.de
Originalpublikation:
Tamás Raskó et al (2022): A novel gene controls a new structure: PiggyBac Transposable Element-derived 1, unique to mammals, controls mammal-specific neuronal paraspeckles, in: Molecular Biology and Evolution, DOI: 10.1093/molbev/msac175
Weitere Informationen:
http://www.mdc-berlin.de - Max Delbrück Center
http://www.bath.ac.uk/research-centres/milner-centre-for-evolution/ - Milner Centre for Evolution
http://www.mdc-berlin.de/de/izsvak - AG Izsvák, Mobile DNA
http://people.bath.ac.uk/bssldh/LaurenceDHurst/Home.html - Laurence Hurst, Laboratory of Evolutionary Genetics and Genomics