InnoTrans 2022 – Mobiler Reinigungs- und Desinfektionsroboter befreit Schienenfahrzeuge von Schmutz & Krankheitserregern
Service-Robotik aus dem Fraunhofer IFAM in Stade
Angewandte Forschung auf der InnoTrans 2022 in Berlin: Im Rahmen des »Fraunhofer vs. Corona«-Programms entwickelten die Expertinnen und Experten für Automatisierung und Produktionstechnik des Fraunhofer IFAM in Stade mit Projektpartnern eine prototypische mobile Roboterplattform, die samt Leichtbauroboter und Dampfreiniger in der Lage ist, Oberflächen von Objekten in Fahrzeugen des öffentlichen Personenverkehrs (ÖPV) mit konstanter Qualität umweltschonend zu reinigen und zu desinfizieren (https://s.fhg.de/FuEMobDiStade; Video).
Der in den Fahrzeugen autonom navigierende Roboter arbeitet mit heißem Trockendampf. Dieser löst Verschmutzungen und Krankheitserreger – wie Viren und Bakterien – mit deutlich verringertem Wasserverbrauch und ohne chemische Reinigungszusätze. Eine in die Bürstendüse integrierte Absaugung entfernt den abgelösten Schmutz sofort. Der mittels Kamera über eine Objekterkennung verfügende Leichtbauroboter führt dabei die Reinigungsdüse automatisch über die zu reinigenden Oberflächen. Akkus versorgen die gesamte Robotik inklusive Steuerung mit Energie. Anstehende Entwicklungen sollen zukünftig auch die mobile Versorgung des Dampfsaugers gewährleisten.
Der Serviceroboter ist nicht nur live auf dem Fraunhofer-Messestand (Halle 23 l Stand 240) in Aktion zu sehen, sondern auch im »Ideenzug« der S-Bahn Hamburg l Deutsche Bahn (Freigelände T11 l 60).
Corona-Pandemie und Fachkräftemangel als FuE-Treiber
Welchen Beitrag kann mobile Robotik in öffentlichen Verkehrsmitteln und Gebäuden bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie leisten? Dieser Frage stellten sich zwölf Institute und Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft im Forschungsprojekt »Mobile Desinfektion« (»MobDi«) im Rahmen des Förderprogramms »Fraunhofer vs. Corona« mit dem Ziel, innerhalb kürzester Zeit Roboter und Reinigungs- beziehungsweise Desinfektionswerkzeuge zu entwickeln, deren Wirksamkeit zu untersuchen sowie wirtschaftliche Aspekte in diesem Zusammenhang zu betrachten.
Die Corona-Pandemie stellt Betreiber von öffentlich genutzten Gebäuden und Verkehrsmitteln vor bisher in diesem Ausmaß nie dagewesene Herausforderungen. Das Thema Desinfektion sowie Reinigung von Oberflächen steht dabei im Fokus. Zugleich mangelt es hierfür in vielen Bereichen an Personal, während häufig ein enormer Zeitdruck vorherrscht. So gilt es, nicht nur den Fachkräften diese Arbeiten zu vereinfachen und sie teilweise zu entlasten, sondern auch, die Frequenz der Oberflächenbehandlung zu erhöhen.
Mobiler Reinigungs- und Desinfektionsroboter für den ÖPV
»Wir haben im Rahmen des Projekts »MobDi« in kürzester Zeit einen mobilen Leichtbauroboter zur automatisierten Reinigung verschiedener Oberflächen – wie Glas und Polster – in Fahrzeugen des öffentlichen Personenverkehrs, eine Antriebsunterstützung zur Überwindung von Spalten und Absätzen sowie ein zugehöriges Reinigungswerkzeug auf Basis von heißem Trockendampf entwickelt«, erläutert der stellvertretende Projektleiter Marvin Schulz vom Fraunhofer IFAM in Stade und betont: »Hervorzuheben ist insbesondere, dass dieser heiße Trockendampf darüber hinaus zu einem gewissen Grad desinfizieren und dabei bis zu 99,9 Prozent der Keime eliminieren kann.«
Bei der Validierung des mobilen Roboters unter realen Bedingungen in der S-Bahn Hamburg erwies sich, dass diese Form moderner Servicerobotik bei der Reinigung und Desinfektion öffentlicher Verkehrsmittel unterstützen und so einen Mehrwert erzielen kann.
Der Reinigungs- und Desinfektionsroboter im Detail
Der Roboter mit einem Gesamtgewicht von 330 kg besteht im Wesentlichen aus einer mobilen Plattform (Automated Guided Vehicle; AGV), einem Aufbau für Peripheriekomponenten sowie einem Leichtbauroboter inklusive eigens entwickeltem Werkzeug für die Dampfreinigung. Direkt am Roboterflansch befindet sich eine Kamera mit zusätzlicher Tiefeninformation zur Objekterkennung und Referenzierung. Vier am Aufbau angebrachte elektrische Zylinder mit abschließenden Schwerlastrollen bilden eine Antriebsunterstützung, die das AGV befähigt, Spalte und kleinere Absätze eigenständig zu überwinden. Außerdem ist im hinteren Bereich des Roboters ein Industriesauger als Teil des Dampfreinigungssystems zur Absaugung gelöster Verunreinigungen angebracht und über einen Schlauch mit der Reinigungsdüse verbunden. Von der Rückwand des Systems führt ein Kabel zur externen Stromversorgung, die bei dieser Machbarkeitsstudie für das Betreiben des Dampfsaugers mit einer maximalen Leistung von 3500 W nötig war, um weitere Akkupacks im Aufbau zu vermeiden.
Die mobile Plattform besitzt einen omnidirektionalen Antrieb, der es dem mobilen Roboter ermöglicht, sich um die eigene Achse zu drehen und vor allem mit beliebiger Orientierung in jede erdenkliche Richtung in der Ebene zu fahren. So wird die Flexibilität des Gesamtsystems erhöht, was in beengten Bereichen – wie in Fahrzeugen des ÖPV – von Vorteil ist. Das AGV bewegt sich mit einer maximalen Geschwindigkeit von 0,9 m/s. Es besitzt zwei Laserscanner, die sowohl zur 360°-Hinderniserkennung als auch zur Kartenaufnahme und späteren Lokalisierung sowie Pfadplanung nutzbar sind. Mithilfe der elektrischen Linearzylindern kann nacheinander je eine Seite der mobilen Plattform angehoben beziehungsweise der gesamte Roboter gekippt werden, um so einen kleinen Absatz in zwei Hubschritten zu überwinden. Um größere Spalte zu bewältigen, lassen sich alle vier Zylinder auf Bodenkontakt fahren, sodass der Radstand – und damit auch die maximal überfahrbare Spaltbreite – erhöht wird. Bei beiden Manövern muss lediglich sichergestellt sein, dass je ein Antriebspaar (vorne bzw. hinten) in Bodenkontakt bleibt, da die Rollen der Zylinder nicht aktiv angetrieben werden können.
Der über dem AGV befindliche Aufbau beherbergt die notwendigen Elektrokomponenten und Steuereinheiten sowie die Akkus für diese Komponenten und den Leichtbauroboter. Darüber hinaus sind hier die für den Einsatz in einer Automatisierungslösung umgebauten Komponenten des Dampfreinigers des assoziierten Projektpartners beam GmbH untergebracht.
Auf der Deckplatte des Aufbaus ist die Basis eines marktüblichen Leichtbauroboters montiert. Der 6-Achs-Roboter hat eine Spitzengeschwindigkeit von 1 m/s, 10 kg Traglast und eine maximale Reichweite von 1300 mm. Alle Kabel und Schläuche, die am Endeffektor nötig sind, werden entlang des Roboters geführt, ohne dabei im Anwendungsfall die Gelenke nennenswert in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Direkt am Roboterflansch ist eine Kamera mit Tiefensensor befestigt. Die Kamera erkennt die zu reinigenden Objekte und bestimmt ihre räumliche Position und Orientierung relativ zum Roboter. Zur Gewährleistung einer schnellen Austauschbarkeit des Reinigungswerkzeugs befindet sich – ebenfalls am Flansch fixiert – ein Werkzeugwechselsystem. Auch der vom Fraunhofer IFAM eigens entwickelte Endeffektor – bestehend aus Dampfdüse mit Dampfauslass, Absaugung sowie Abziehlippe und Reinigungsbürste – ist mit einem Losteil des Wechselsystems ausgestattet. Außerdem verfügt der Endeffektor über eine federgelagerte Ausgleichskinematik, die Unebenheiten in Stoßrichtung des Roboterflanschs ausgleicht und geringfügige Toleranzen bei der Objekterkennung kompensiert.
Erfolgreicher Einsatz unter realen Bedingungen und Ausblick in die Zukunft
»Mit dem mobilen Serviceroboter konnten wir in der Validierungsumgebung unseres assoziierten Projektpartners S-Bahn Hamburg erfolgreich zeigen, dass sich sowohl Fensterscheiben als auch Sitzbänke in einem Zugwaggon vollautomatisiert reinigen lassen«, fasst Projektleiter Björn Reichel zusammen und ergänzt: »Mit der aktuellen Konfiguration und minimalen Anpassungen ließen sich Hochrechnungen zufolge die Fenster und Sitzbänke eines gesamten S-Bahn-Zugs reinigen, ohne Frischwasser nachfüllen oder die Akkus des Systems aufladen zu müssen«.
In Zukunft ist das Anwendungsfeld deutlich erweiterbar, da die Methodik der Dampfreinigung für diverse Oberflächenmaterialien nutzbar ist. Zudem kann die Objekterkennung auf weitere Objekte ausgeweitet werden. Entscheidend ist dabei jedoch auch die Anpassbarkeit der Düse an die Geometrie der Objekte, gegebenenfalls verbunden mit der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Düse oder eines Wechsels während des Reinigungs- und Desinfektionsprozesses.
Herausforderungen ergaben sich durch die beengten Arbeitsbereiche und die Erreichbarkeit mit der 6-Achs-Kinematik des Roboters sowie der Gesamtgröße des Systems, weshalb bei angestrebten Folgeprojekten der Fußabdruck des Gesamtsystems zu reduzieren ist und mit einer 7-Achs-Kinematik gearbeitet werden könnte.
Die Spannungsversorgung des Reinigungsgeräts wurde über ein mitgeführtes Kabel bereitgestellt. Zukünftig hingegen könnte die Versorgung über Akkus untersucht und realisiert werden, um die Autarkie des Systems zu steigern.
Weitere Informationen:
http://www.ifam.fraunhofer.de/de/Messen_Veranstaltungen/innotrans-2022.html InnoTrans 2022
http://www.ifam.fraunhofer.de/content/dam/ifam/de/documents/Messen/Auszug_Innotrans_2022_WorldInnovationGuide_IFAM.pdf InnoTrans 2022 l World Innovation Guide l Auszug
https://s.fhg.de/FuEMobDiStade Video
http://www.ifam.fraunhofer.de/stade Webseite
https://s.fhg.de/WCc Flyer Automatisierung und Produktionstechnik