Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte vereinfachen: SVR zu Chancen und Risiken eines Punktesystems
Mit der Einführung der von der Regierungskoalition geplanten Chancenkarte auf Basis eines Punktesystems könnte das Erwerbsmigrationsrecht vor einem Systemwechsel stehen. Dafür ist laut Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) in der Politik ein Umdenken nötig: Statt wie bisher bei ausländischen Arbeitskräften vor allem auf eine als gleichwertig anerkannte Berufsausbildung zu setzen, würden insbesondere materielle Qualifikationen wie etwa Berufserfahrung und Sprachkenntnisse an Bedeutung gewinnen.
Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Einführung einer sogenannten Chancenkarte für den Bereich der Arbeitsplatzsuche greift nach Ansicht des SVR zu kurz. „Für den SVR ist klar: Einzig und allein für den Bereich der Arbeitsplatzsuche lohnt ein Punktesystem nicht. Ein solches System sollte die schon bestehenden Zugangsmöglichkeiten nicht verkomplizieren, sondern sinnvoll erweitern. Es müssen also mehr Menschen davon profitieren können, als dies derzeit der Fall ist“, sagt Prof. Dr. Petra Bendel, Vorsitzende des SVR. Deshalb plädiert der Sachverständigenrat dafür, den Anwendungsbereich eines Punktesystems weiter zu fassen als im Koalitionsvertrag skizziert und macht hierzu in einem Positionspapier Vorschläge. „Die vom SVR empfohlenen Maßnahmen lassen sich im Rahmen eines Punktesystems umsetzen. Dies setzt allerdings einen gewissen Bürokratieaufbau voraus. Alternativ ist auch denkbar und im Sinne einer schlanken Umsetzung empfehlenswert, dass über die Chancenkarte kommen kann, wer eine zu benennende Anzahl an Kriterien erfüllt, z.B. über Berufserfahrung, Sprachkenntnisse auf einem bestimmten Niveau und einen Voraufenthalt in Deutschland verfügt. Diese Variante wäre sehr nah an dem vom SVR bereits vor einiger Zeit empfohlenen Modell „Nimm 2+“, so Prof. Bendel.
„Wenn es dagegen bei der geplanten Chancenkarte auf Basis eines Punktesystems bleibt, geht es auch hier um Grundsatzentscheidungen. Damit ein Punktesystem einen Mehrwert darstellt, sollten auch solche Ausländerinnen und Ausländer in den Blick genommen werden, die im deutschen Erwerbsmigrationsrecht bislang nicht systematisch erfasst sind: Arbeitskräfte ohne Formalqualifikation. Sie sollen künftig die Möglichkeit haben, anhand weiterer Kriterien bewertet zu werden. Vor allem praktische Erfahrungen sollen hier zum Tragen kommen“, erläutert die SVR-Vorsitzende. Deutschland gehöre zwar für Menschen mit als gleichwertig anerkannten Qualifikationen bereits zu den liberalsten Ländern weltweit. In der Praxis habe sich der Gleichwertigkeitsnachweis jedoch als zentrale Zuzugshürde erwiesen. „Nicht alle können eine Ausbildung nach deutschen Standards nachweisen. Auch dauern die Verfahren oft zu lange oder sie sind zu komplex. Um im internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte bestehen zu können, müssen wir hier deshalb nachsteuern“, ergänzt Bendel.
So könnte ein vorhandener Arbeitsvertrag als Kriterium herangezogen werden. Auch die Berufserfahrung und das Lebensalter, Sprachkenntnisse oder ein vereinbartes oder zu erwartendes Mindestgehalt könnten sich positiv auf die Bewertung auswirken. Zudem ist die Einbeziehung entwicklungspolitischer Merkmale denkbar, um einem Braindrain in bestimmten Herkunftsländern vorzubeugen. Auch die Zugehörigkeit zu einem Mangelberuf oder eine besondere Beziehung zu Deutschland, etwa durch frühere Aufenthalte oder persönliche Bindungen, könnten im Rahmen eines Punktesystems positiv angerechnet werden.
„Bei der Frage, welche Auswahlkriterien letztlich zum Tragen kommen, müssen politische Wertentscheidungen getroffen werden“, erläutert Prof. Dr. Daniel Thym, Stellvertretender Vorsitzender des SVR. „Welchen Stellenwert das Alter eines Bewerbers einnimmt, hängt schließlich vor allem von der Frage ab, wie intensiv die Politik dieses Instrument als Maßnahme zur Abfederung des demografischen Mangels begreift. Wichtig für den SVR ist, dass bei der Entscheidung bislang gemachte Erfahrungen mit einzelnen Kriterien berücksichtigt werden. Zwar ist der teilweise Verzicht auf den Nachweis einer gleichwertigen Berufsausbildung migrationspolitisch sinnvoll, gleichzeitig aber auch mit Risiken behaftet.“ So könnten auf diesem Weg gekommene Arbeitskräfte in einem nach wie vor stark an Formalqualifikationen orientierten Arbeitsmarkt den Preis einer höheren Vulnerabilität bezahlen, etwa wenn sie ihren ursprünglichen Job verlieren. Zugleich sollte dem potenziellen Bedeutungsverlust formaler Qualifikationen nach deutschen Standards entgegengewirkt werden. „Der SVR unterstützt daher mit Nachdruck das Vorhaben der Bundesregierung, die Anerkennungsverfahren schlanker und transparenter zu gestalten und gemeinsam mit der Wirtschaft aktiv junge Menschen für eine duale Ausbildung in Deutschland zu gewinnen“, so Thym.
Auch das in Deutschland prägende und bewährte Prinzip der Arbeitsmarkterdung müsse langfristig mitbedacht werden, mahnt der SVR. Ausländerinnen und Ausländer, die zur Arbeitssuche einreisen, sollten daher zur Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis gewisse Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehöre, dass die im Anschluss an die Suchphase gefundene Tätigkeit zumindest annähernd dem Ausbildungsstand der ausländischen Arbeitskraft entspricht. Eine unterqualifizierte Beschäftigung etwa als Hilfskraft oder im Niedriglohnsektor sieht der SVR dagegen kritisch, da dies eine großflächige und nur schwer steuerbare Öffnung des Arbeitsmarkts auch für niedrigqualifizierte Beschäftigungen zur Folge hätte. Schließlich empfiehlt der SVR, experimentell vorzugehen. „Die Bundesregierung könnte ein Kontingent für zuwandernde Arbeitskräfte definieren, in dessen Rahmen bestimmte Kriterienkombinationen getestet werden. So wird ein lernendes System geschaffen, über das die Steuerungsarchitektur der Chancenkarte kontinuierlich verbessert werden kann. Diese Herangehensweise hat sich auch in anderen Einwanderungsländern bewährt“, erläutert Prof. Thym.
Außerdem müssen auch die Strukturen im Bereich der Erwerbsmigration verbessert werden. „Nicht nur die Rechtsetzung an sich, auch die Umsetzung ist wichtig“, fasst die SVR-Vorsitzende Prof. Bendel zusammen. „Schon jetzt zeigt sich, dass die Verwaltungsstrukturen deutscher Behörden nicht optimal funktionieren – sowohl im Inland als auch im Ausland. Hier müssen Arbeitskräfte, die ein Visum beantragen, oft mehrere Monate auf einen Termin warten. Durch die Eröffnung neuer Möglichkeiten der Zuwanderung durch eine Chancenkarte wird der Reformbedarf noch dringlicher. Wenn wir ein erfolgreiches Erwerbsmigrationsrecht haben wollen, müssen wir überflüssige Bürokratie abschaffen, Anerkennungsverfahren vereinfachen, Prozesse digitalisieren und die beteiligten Behörden personell besser ausstatten. Kurz: Wir müssen schneller und flexibler werden, um fähige und motivierte Arbeitskräfte für Deutschland zu interessieren.“
Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Petra Bendel (Vorsitzende), Prof. Dr. Daniel Thym (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Viola B. Georgi, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Dr. Steffen Mau, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger und Prof. Dr. Hans Vorländer.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de
Originalpublikation:
Das SVR-Positionspapier zum Punktesystem „Zuzug ausländischer Arbeitskräfte erleichtern: Chancen und Risiken eines Punktesystems“ kann hier heruntergeladen werden:
https://www.svr-migration.de/publikationen/positionspapier-punktesystem