Detektivin im Dschungel des Darmmikrobioms – ein Life Sciences Bridge Award geht an Melanie Schirmer
An Infektions- und Autoimmunerkrankungen leiden Millionen von Menschen. Die Frage, warum Frauen davon besonders betroffen sind, wurde in der Forschung bisher vernachlässigt. In dem ERC Starting Grant Projekt ihrer Nachwuchsgruppe an der Technischen Universität München verfolgt Dr. Melanie Schirmer (39) die Hypothese, dass es an hormonellen Interaktionen mit dem menschlichen Mikrobiom liegt. Durch die Integration bioinformatischer und mikrobiologischer Methoden sind der Mathematikerin am Broad-Institut in Cambridge/USA bereits wegweisende Analysen des Mikrobioms gelungen.
Gestern Abend verlieh ihr die Aventis Foundation dafür einen Life Sciences Bridge Award.
Allein in Nordamerika und Europa leiden fast vier Millionen Menschen an einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (IBD) wie Colitis Ulcerosa oder Morbus Crohn. Weltweit steigt die IBD-Inzidenz seit Jahrzehnten an. Eine genetische Veranlagung allein kann das Entstehen und Persistieren der Krankheit nicht erklären. Vieles spricht dafür, dass dabei ein gestörtes Verhältnis zwischen dem Darm eines Menschen und den Billionen von Mikroben, die ihn besiedeln, eine Rolle spielt. Zur Erhärtung dieser Hypothese hat Melanie Schirmer mit ihrer Forschung erheblich beigetragen, als sie von 2015 bis 2020 zunächst als Post-Doc und später als Computational Scientist mit Prof. Ramnik Xavier und Prof. Curtis Huttenhower in Cambridge/USA zusammenarbeitete.
Was sie dort begann, setzt sie im eigenen Labor an der Technischen Universität München (TUM) fort: Sie durchforstet mit bioinformatischen Methoden Sequenzierungsdaten aus dem Mikrobiom und leitet daraus Hypothesen über mögliche Beziehungen zwischen Bakterien und dem Immun- oder Hormonsystem ab, die sie anschließend in mikrobiologischen Verfahren experimentell validiert. Noch längst sind nicht alle mikrobiellen Organismen, die in und auf dem menschlichen Körper leben, identifiziert. Schirmer sequenziert daher in Patientenproben nicht nur die Erbinformation einzelner Gene, sondern alle darin vorhandenen Genome, die bei der Sequenzierung in kleinen Bruchstücke gelesen werden. Einer Puzzlespielerin vergleichbar, schließt sie aus diesen Daten darauf, wie die Darmflora eines Menschen zusammengesetzt ist. Um die Funktion dieser Flora zu erhellen, muss sie aber auch deren Aktivitätsmuster kennen. Deshalb untersucht sie auch, welche mikrobiellen Gene besonders häufig transkribiert werden.
Ein aktuelles Projekt ihrer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe geht von der Beobachtung aus, dass sich im Darm von IBD-Patienten viele Mikroorganismen aus der Mundhöhle finden, die bei Gesunden dort kaum vorkommen. Um den Gründen dieser Translokation auf die Spur zu kommen, vergleicht sie in prospektiven Studien die genetische Identität und Aktivität von Mikroben aus Speichel- und Stuhlproben. So hofft sie, einen Schlüssel zum besseren Verständnis der Krankheitsursuchen von IBD zu finden. Einen ERC Starting Grant hat Schirmer jüngst für ein Projekt eingeworben, in dem sie sich auf einen vernachlässigten Aspekt der Gesundheit von Frauen fokussiert. Kann es sein, fragt sie darin, dass viel mehr Frauen von Autoimmun- und Infektionserkrankungen betroffen sind als Männer, weil es einen bisher nicht beachteten Cross-Talk zwischen ihrem Mikrobiom und ihrem zyklusbedingt schwankenden Hormonhaushalt gibt? Dieser Geschlechtsunterschied ist in der Mikrobiomforschung bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden. Aus seiner Erforschung könnten eines Tages vielleicht sogar mikrobiombasierte Behandlungen für diese Krankheiten resultieren.
„Das Mikrobiom lässt sich leichter verändern als das menschliche Genom“, sagt Melanie Schirmer. „Das Ziel meiner Forschung ist es, Krankheiten, bei denen das Gleichgewicht zwischen dem Darmmikrobiom und dem menschlichen Immunsystem gestört ist, besser verstehen und behandeln zu können.“ Dass es an der TUM den Sonderforschungsbereich Microbiome Signatures gibt, macht München für sie zu einem idealen Standort.
Die Analyse von Daten aus dem Mikrobiom erfordert besondere Fähigkeiten an der Schnittstelle von Bioinformatik und Mikrobiologie“, sagt Prof. Werner Müller-Esterl, Vorsitzender der Jury des Life Sciences Bridge Award. „Wie sehr Melanie Schirmer über diese Fähigkeiten verfügt, belegt ihr außergewöhnlich hoher h-Index von 25 nur zehn Jahre nach ihrer Promotion. Wir möchten ihr mit diesem Preis über die Brücke zu einer unbefristeten Professur helfen.“
Der Life Sciences Bridge Award ist einer der höchstdotierten Nachwuchspreise Deutschlands. Er wird jährlich an drei Preisträger:innen vergeben, die an deutschen Universitäten forschen.
Sie erhalten jeweils 100.000 Euro. Zehn Prozent davon dürfen sie für persönliche Zwecke nutzen, der Rest ist der Finanzierung ihrer Forschung vorbehalten.
Die Aventis Foundation ist eine unabhängige, gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie dient der Förderung von Kunst und Kultur sowie von Wissenschaft, Forschung und Lehre.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Melanie Schirmer
Technische Universität München/Institute for Food & Health
Emmy Noether Group for Computational Microbiome Research
Gregor-Mendel-Straße 2
85354 Freising
melanieschirmer.com
Originalpublikation:
M. Schirmer et al. Linking the human gut microbiome to inflammatory cytokine production capacity, Cell 2016 Nov 3; 167 (4): 1125-1136. 10.1016/j.cell.2016.10.020
M. Schirmer et al. Dynamics of metatranscription in the inflammatory bowel disease gut microbiome, Nature Microbiology 3, 337-346 (2018). 10.1038/s41564-017-0089-z
S. Jin, D. Wetzel, M. Schirmer
Deciphering mechanisms and implications of bacterial translocation in human health and disease. Current Opinion in Microbiology; 67, June 2022. 10.1016/j.mib.2022.102147