Weshalb es sich lohnt, das Spazierengehen zu erforschen
Interview mit Prof. Dr. Sandra Dinter, Juniorprofessorin für Britische Literatur und Kultur an der Universität Hamburg und Stipendiatin der Daimler und Benz Stiftung
Jeder von uns kennt ihn, meist erfreut er sich großer Beliebtheit: der Spaziergang. Ob durch ein Stadtzentrum, in einem Park, an einem See oder im Wald – die meisten Menschen waren schon einmal spazieren und finden das selbstverständlich. Tatsächlich aber existierte der Spaziergang als Freizeitbeschäftigung vor dem 18. Jahrhundert in Westeuropa noch nicht. Er entwickelte sich erst durch das Zusammenspiel verschiedener kultureller, historischer und technologischer Prozesse. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Sandra Dinter vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg ist britischen Fußgängerinnen im 19. Jahrhundert buchstäblich auf der Spur. Ihr Forschungsprojekt wird im Rahmen des Stipendienprogramms für Postdoktoranden und Juniorprofessoren der Daimler und Benz Stiftung über zwei Jahre mit einer Summe von 40.000 Euro gefördert.
Stiftung: Frau Dinter, auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich, sich mit dem Spaziergang als Forschungsthema zu befassen. Was hat Sie dazu motiviert?
Dinter: Gehen ist die ursprünglichste Form der menschlichen Fortbewegung. Viele glauben, dass es ein rein intuitiver Vorgang sei, aber das Gehen ist stark kulturell geprägt. Das gilt übrigens für alle Mobilitätsformen. Fahrrad- und Autofahren, Zug- und Flugreisen – alle Fortbewegungsarten unterliegen einem Zeitgeist, technologischen Entwicklungen und werden mit Faktoren wie Geschlecht, Alter, sozialer Schicht oder Ethnizität verbunden.
Stiftung: Könnten Sie das an einem aktuellen Beispiel erläutern?
Dinter: Zu Beginn der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 erlebte der Spaziergang als Freizeitbeschäftigung in Deutschland eine Renaissance. Gerade im ersten Lockdown gingen die Menschen mit Bedacht spazieren und hielten Abstand zueinander. Ein anderes Beispiel sind Wander- und Pilgerreisen, die sich – unter anderem bedingt durch den Klimawandel – in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit erfreuen. Die Tourismusindustrie kommt diesem Wunsch nach und hat sich mittlerweile auf neue und nachhaltige Urlaubsformen eingestellt. Mobilität ist immer ein kulturelles Konstrukt: In der Industrialisierung wurde das Bahnreisen mit technologischem Fortschritt und Modernität verbunden, bei uns steht noch immer das Auto für Individualismus und Selbstverwirklichung.
Stiftung: Konzentrieren wir uns auf den Spaziergang. Ist vor dem 18. Jahrhundert in Westeuropa tatsächlich niemand in unserem heutigen Sinn spazieren gegangen?
Dinter: Natürlich sind die Menschen zu Fuß gegangen, aber nicht im Sinne des freizeitmäßigen Spazierengehens. Das Laufen war vor allem für die Arbeiterschicht ein Mittel zum Zweck, um zur Arbeit zu kommen oder etwas zu erledigen. Das Zufußgehen brachte man mit Armut, Obdachlosigkeit oder Rastlosigkeit in Verbindung, Frauen wurden sogar sexuelle Motive unterstellt. Die Aristokratie hingegen brauchte nicht zu laufen, sie konnte sich eine Kutsche leisten. In den herrschaftlichen Anwesen wurde höchstens flaniert, um den eigenen Reichtum zu demonstrieren. Wer damals also einfach so zu Fuß gereist oder spazieren gegangen ist, wurde nicht nur komisch beäugt, sondern auch als dubios, suspekt oder gar kriminell eingestuft.
Stiftung: Wann hat sich diese Wahrnehmung geändert?
Dinter: Dafür sorgten die Romantiker ab Ende des 18. Jahrhunderts. Sie haben das Spazieren, das sich bis dato nicht schickte, in einem politisch-revolutionären Prozess umcodiert und etabliert. Zufußgehen wurde wesentlicher Teil von Natur- oder Selbsterfahrungen, bei künstlerischen Landschaftsbetrachtungen gehörte es einfach dazu. Diese neue Freiheit galt zunächst für Männer; Frauen eroberten den Spaziergang erst Mitte des 19. Jahrhunderts für sich.
Stiftung: Womit wir bei Ihrem konkreten Forschungsthema wären.
Dinter: Ja, genau. Ich konzentriere mich auf das Zusammenwirken von Raum, Mobilität und Weiblichkeit im ländlichen Raum vor dem Hintergrund der Industrialisierung. Dabei untersuche ich, wie diese Zusammenhänge in der britischen Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts repräsentiert sind. Wissenschaftlich gesehen ist das Neuland – bislang ist vor allem der urbane Raum mit Schwerpunkt auf männlichen Fußgängern in der Literatur aufgearbeitet.
Stiftung: Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit vor, nutzen Sie überwiegend literarische Quellen?
Dinter: In den 1990er-Jahren erfolgte eine Repositionierung der kulturwissenschaftlichen Anglistik. Seitdem wird das Augenmerk auf unterschiedliche Quellen – darunter auch Populärliteratur – gelegt. Um ein differenziertes Bild über die Lage der britischen Fußgängerinnen im 19. Jahrhundert zu erhalten, werte ich Romane, lyrische Texte, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Reiseberichte, Zeitungsartikel, Leserbriefe, Ratgeberliteratur sowie Gemälde und Illustrationen von damals aus. Ausgedehnte Wanderungen und Spaziergänge werden beispielsweise in Romanen von Jane Austen (1775-1817) oder Charlotte Brontë (1816-1855) zur Charakterisierung der weiblichen Protagonistinnen genutzt, wobei weiße, christliche Frauen der Mittel- und Oberschicht in deren literarischem Fokus stehen.
Stiftung: Und welche Vorschläge oder Empfehlungen konnten die Leserinnen der damaligen Ratgeberliteratur entnehmen?
Dinter: Manche Ratgeber waren medizinisch angehaucht, manche verarbeiteten das weibliche Spazieren ironisch, manche gaben praktische Tipps „How a woman should walk“: Gehen ist in Ordnung, Rennen ist tabu. Man sollte grundsätzlich in Begleitung unterwegs sein, den Schirm richtig halten und vieles mehr. Um sich beim Spazieren stilvoll zu präsentieren, gab es sogar Empfehlungen für „walking dresses“. Eine Frau der privilegierten Schicht war angehalten, beim Zufußgehen besondere Vorkehrungen zu treffen, um ihre soziale und moralische Integrität auszudrücken.
Stiftung: Frau Dinter, Sie sind Stipendiatin der Daimler und Benz Stiftung. Inwiefern ist das Förderprogramm für Postdoktoranden für Ihre Forschung und Ihren Berufsweg hilfreich?
Dinter: Meine Forschung zählt zum großen Feld der sogenannten Mobility Studies. Die Förderung der Daimler und Benz Stiftung verschafft mir persönlich mehr Mobilität, um an die schriftlichen Quellen heranzukommen. Viele Archive sind nach wie vor nicht bzw. nicht komplett digitalisiert, sodass ich viel reisen muss. Außerdem plane ich eine wissenschaftliche Tagung, bei der auch Kolleginnen und Kollegen aus Soziologie, Geschichte, Kunstgeschichte und Filmwissenschaften mitwirken sollen. Wir brauchen viele Disziplinen, um Vorstellungen von künftiger Mobilität und vor allem dem gesellschaftlichen Weg dahin zu entwickeln.
Stiftung: Kann Ihre historische Mobilitätsforschung denn tatsächlich in die Zukunft wirken?
Dinter: Im Fokus meiner geisteswissenschaftlichen Arbeit stehen die Dokumentation, die Analyse und das Verständnis der Historie, ich betrachte einen Ausschnitt der westlichen Kulturgeschichte der Mobilität. Dabei verfolge ich weder einen anwendungsbasierten Ansatz noch entwickle ich konkrete Produkte, wie es in der Ingenieurwissenschaften der Fall ist. Aber das Heute, Morgen und Gestern sind eng miteinander verbunden: Unsere gegenwärtige Mobilität hat sich aus der Mobilität früherer Generationen entwickelt und genau dies gilt es zu reflektieren. Wenn wir also über die mobile Zukunft nachdenken, sollten wir grundsätzlich interdisziplinär vorgehen. Denn Geisteswissenschaften leisten Perspektiven und Beiträge, die andere Wissenschaften nicht abdecken – und umgekehrt. Meine Studien über Fußgängerinnen im 19. Jahrhundert tragen zu einem analytischen Diskurs über das Zusammenwirken von Geschlechterrollen, Klassenordnungen und Modernisierungsprozessen bei, die die Mobilität in Westeuropa entscheidend prägten und dies – wenn auch in anderer Form – weiterhin tun werden.
Stipendienprogramm für Postdoktoranden und Juniorprofessoren
Die Daimler und Benz Stiftung vergibt jedes Jahr zwölf Stipendien an ausgewählte Postdoktoranden mit Leitungsfunktion und Juniorprofessoren. Ziel ist, die Autonomie und Kreativität der nächsten Wissenschaftlergeneration zu stärken und den engagierten Forschern den Berufsweg während der produktiven Phase nach ihrer Promotion zu ebnen. Die Fördersumme in Höhe von 40.000 Euro pro Stipendium steht für die Dauer von zwei Jahren bereit und kann zur Finanzierung wissenschaftlicher Hilfskräfte, technischer Ausrüstung, Forschungsreisen oder zur Teilnahme an Tagungen frei und flexibel verwendet werden. Durch regelmäßige Treffen der jungen Wissenschaftler dieses stetig wachsenden Stipendiatennetzwerks fördert die Daimler und Benz Stiftung zugleich den interdisziplinären Gedankenaustausch.
Daimler und Benz Stiftung
Die Daimler und Benz Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung. Dazu richtet sie innovative und interdisziplinäre Forschungsformate ein. Ein besonderes Augenmerk legt die Stiftung durch ein Stipendienprogramm für Postdoktoranden sowie die Vergabe des Bertha-Benz-Preises auf die Förderung junger Wissenschaftler. Mehrere Vortragsreihen sollen die öffentliche Sichtbarkeit von Wissenschaft stärken und deren Bedeutung für unsere Gesellschaft betonen.
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