Planetary Health Diet – Innovatives Inverted Classroom-Lehrkonzept mit Kochkurs für das Studium generale pilotiert
Im Sommersemester 2022 wurde an der Georg-August-Universität Göttingen ein innovatives Inverted Classroom-Lehrkonzept zum Thema "Planetary Health Diet" für Studierende aller Fachrichtungen (Studium generale) mit praktischem Kochkurs im Teaching Kitchen zur Verbesserung von ernährungsbezogenen Gesundheits- und Nachhaltigkeitskompetenzen pilotiert. Es basiert auf der Planetary Health Diet der EAT Lancet Commission (2019) und den lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE). Das Lehrkonzept wurde vom Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen in Kooperation mit Culinary Medicine Deutschland e.V. entwickelt.
Wie und was wir essen ist nicht nur eine wesentliche Determinante von individueller Gesundheit und Wohlbefinden. Unsere Ernährung beeinflusst darüber hinaus Ressourcenverbrauch, Kulturlandschaft, Biodiversität, Klima und Gesellschaft. Wissenschaft und Politik stehen vor der drängenden Herausforderung, Maßnahmen zu erarbeiten, die der ständig wachsenden Weltbevölkerung auch in Zukunft eine gesundheitsförderliche und sichere Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen ermöglichen und soziale Ungleichheiten verringern. Weltweite Referenz für einen entsprechenden Lösungsvorschlag ist die Planetary Health Diet der EAT Lancet Commission (2019)[1]. Die lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) sind dazu grundsätzlich konkordant (2022)[2]. Dies schließt verbleibende Differenzen bei den Vorgaben u.a. für den Milch- und Fleischkonsum ein.
Beide Empfehlungen stellen die Grundlage für ein innovatives Inverted Classroom-Lehrkonzept für das Studium generale mit Praxisteil im Teaching Kitchen an der Universität Göttingen dar, das im Sommersemester 2022 erstmals vom Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen (IfE) in Kooperation mit Culinary Medicine Deutschland e.V. pilotiert wurde. Dabei lernen Studierende aller Fachrichtungen zunächst das Konzept der Planetary Health Diet detailliert kennen. Es wird mit den aktuellen Ernährungsempfehlungen der DGE verglichen und durch einen anwendungsbezogenen Kursteil in der Lehrküche ergänzt, in dem die wesentlichen Prinzipien von zukunftsfähigen Ernährungskonzepten in Musterrezepten illustriert werden.
„Wir haben gleich drei Lehrinnovationen in einem Kurskonzept zusammengeführt“, so der wissenschaftliche Projektleiter PD Dr. med. Thomas Ellrott vom IfE. „Einmal steht das Kursangebot im Rahmen von Schlüsselqualifikationen allen Studierenden der Universität offen, zum Zweiten ist das praktische Lernen im Teaching Kitchen eine wesentliche Lehrmethode und drittens werden die Studierenden im Rahmen des Inverted Classroom-Konzepts deutlich stärker in die Gestaltung des Lehrangebots involviert."
Dabei wird zunächst ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis für die Grundlagen einer nachhaltigen, gesundheitsfördernden Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen geschaffen. Möglichkeiten der Integration einer entsprechenden Ernährungsweise in den Alltag werden erarbeitet. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen und finanziellen Restriktionen, mit denen sich auch Studierende häufig konfrontiert sehen. Im Anschluss werden die theoretischen Inhalte von den Studierenden im Teaching Kitchen direkt in konkretes Handeln überführt und beim gemeinsamen Essen in einem Lehrgespräch diskutiert. Während des Kochkurses werden auch Rezepte variiert und die jeweiligen Auswirkungen auf Gesundheit, Nachhaltigkeit aber auch Sensorik und Akzeptanz herausgearbeitet.
Im Rahmen des Inverted Classroom-Ansatzes bringen Studierende sowohl Referatsleistungen, selbst erstellte Poster als auch eigene Rezepte in das Lehrangebot ein. Die eigenen Rezepte werden im Teaching Kitchen zum einen in der originalen Rezeptur zubereitet. Parallel dazu werden im Reallabor-Ansatz Änderungen an der Rezeptur zur Verbesserung des Nährwertprofils und der Klimabilanz vorgenommen und praktisch ausprobiert. Für die Rezepturen erfolgen sowohl eine Nährwertberechnung wie auch eine Berechnung der Klimarelevanz anhand von Kohlendioxid-Äquivalenten.
Die Studierenden lernen im Teaching Kitchen, wichtige Kulturtechniken praktisch anzuwenden. Sie erweitern ihre Kompetenzen für eine nachhaltige und gesundheitsförderliche Nahrungszubereitung, die auch als Culinary Practices bezeichnet werden. Durch die Integration der eigenen Rezepte in das Lehrkonzept entsteht ein enger Bezug zu den direkten Lebenswelten der Studierenden, wodurch der Transfer der Kursinhalte in den Alltag erleichtert wird. Die auf diesem Weg erworbenen Transfer-Kompetenzen befähigen die Studierenden dazu, in ihren zukünftigen Berufen eine gesellschaftliche Multiplikatorenfunktion für die Transformation in Richtung nachhaltiger Ernährungssysteme und Entwicklungsziele (UN Sustainable Development Goals)[3] zu übernehmen. Grundlagen für die Lehrmethode im Teaching Kitchen wurden bereits ab 2010 von Neumann an der Universität Osnabrück gelegt (Neumann 2017)[4][5].
Uwe Neumann, Vorstand von Culinary Medicine Deutschland e.V., betont: „Das Thema Ernährung hat fundamentalen Einfluss auf die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Durch das neue Lehrangebot im Teaching Kitchen verbessern wir die Gesundheits- und Nachhaltigkeitskompetenzen im Ernährungskontext von Studierenden aller Fachrichtungen und den Transfer in die Gesellschaft.“
„Eine gesunde und nachhaltige Ernährung ist zwar ein wichtiges gesellschaftliches Ziel, allerdings wird dabei oft übersehen, dass nicht Gesundheit und Nachhaltigkeit, sondern Geschmack, Genuss und Lebensfreude die wichtigsten Motive für individuelle Essentscheidungen darstellen. Hinzu kommt, dass unzureichende praktische Kochfertigkeiten oft eine wesentliche Barriere für die Umsetzung der Prinzipien der Planetary Health Diet darstellen. Genau das wird durch die innovative Lehrmethode im Teaching Kitchen adressiert“, ergänzt Ellrott.
Mit Hilfe einer Projektförderung über die Rut- und Klaus-Bahlsen-Stiftung (Hannover) war es möglich, das neue Kursangebot seit 2021 zu entwickeln und im Sommersemester 2022 zu pilotieren. Im Wintersemester 2022/2023 werden an der Universität Göttingen in Kooperation mit dem Hochschulsport drei Planetary Health Diet-Kurse über Schlüsselkompetenzen angeboten[6], die von einer umfangreichen Lehrevaluation begleitet werden. Diese finden im neuen Teaching Kitchen im Jahnpark Göttingen statt, das von Culinary Medicine Deutschland e.V. betrieben wird. Kooperationen mit anderen Universitäten und eine multizentrische Evaluation sind in Planung. An einer Zusammenarbeit interessierte Hochschulen können gern Kontakt aufnehmen.
Das neue Lehrkonzept wurde im Oktober 2022 auf der Forschungskonferenz der Teaching Kitchen Collaborative erstmals international vorgestellt (Rosenau, Neumann und Ellrott 2022)[7]. Culinary Medicine Deutschland e.V. ist gemeinsam mit dem Institut für Ernährungspsychologie seit 1.1.2022 gewähltes Vollmitglied im Internationalen Forschungsnetzwerk Teaching Kitchen Collaborative[8].
Neben dem Planetary Health Diet-Lehrangebot für das Studium generale bieten Culinary Medicine Deutschland e.V. und das Institut für Ernährungspsychologie auch ein spezielles Wahlfach "Culinary Medicine" für Medizinstudierende an der Universitätsmedizin Göttingen an, das die ernährungsmedizinischen Beratungskompetenzen von angehenden Ärztinnen und Ärzten verbessert[9]. Es wird derzeit multizentrisch evaluiert. Auch hier sind Kooperationsanfragen ausdrücklich erwünscht.
Unter dem Titel "Zukunft Schmecken" haben beide Institutionen zusammen mit weiteren Partnern Schülerinnen und Schüler zu DIY-Kochworkshops in das größte Teaching Kitchen auf der Bildungsmesse IdeenExpo 2022 (Hannover) eingeladen, bei denen Nachhaltigkeits- und Gesundheitsaspekte neben praktischen Kochfertigkeiten im Vordergrund standen[10]. Fast 5000 Schülerinnen und Schüler nahmen an den Workshops teil. Zudem wurden Bildungsveranstaltungen im Kontext der Planetary Health Diet für den Verband für Ernährung und Diätetik e.V. (VFED)[11] und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)[12] angeboten.
Zur Definition des Begriffs "Teaching Kitchen" (erweitert nach https://teachingkitchens.org/)
Ein Teaching Kitchen ist ein Reallabor zum Erlernen wesentlicher Lebenskompetenzen. Die Teaching Kitchen Collaborative befürwortet keine bestimmte "Diät", sondern lehrt den Einzelnen - und im weiteren Sinne auch seine Familienmitglieder - auf individueller Basis ein Leben lang gesünder und nachhaltiger zu essen, zu kochen, sich zu bewegen und zu denken (Life Skills).
Neben der Vermittlung grundlegender Kochtechniken bieten Teaching Kitchen auch andere Themen der Selbstfürsorge wie verbesserte Ernährung, Achtsamkeit, körperliche Betätigung und Verhaltensmodifikation an. Auch Aspekte von Nachhaltigkeit und Klimaschutz spielen eine wichtige Rolle. Die Küche selbst ist zwar ein wesentlicher Bestandteil, aber sie ist nur der Ort, während das in der Lehrküche durchgeführte komplexe Lehrkonzept die vielfältigen positiven Veränderung bewirkt. Der Begriff "Teaching Kitchen" wird somit sowohl für den Lernort verwendet, wie auch für die komplexe Lehrmethode, die an diesem Ort angewendet wird.
Teaching Kitchen können in der professionellen Ausbildung, zum Coaching von Klienten bzw. Patienten oder auch in der Community eingesetzt werden. Werden sie in der professionellen Ausbildung als Lehrmethode eingesetzt, dann befähigen sie die Teilnehmenden dazu, in den eigenen Berufen Gesundheits- und Nachhaltigkeitsaspekte wesentlich besser in die praktische Lehr-, Beratungs- und Behandlungstätigkeit einzubringen.
Schließlich ist eine Lehrküche auch ein Ort der Begegnung. Ob in einem Krankenhaus, wo Patienten lernen können, wie man eine chronische Krankheit durch die richtige Ernährung bessern kann, oder in Schulen und Gemeindezentren, wo Kinder wie auch Erwachsene gemeinsam und mit Freude kochen lernen, in einer Bürocafeteria, die den Mitarbeitern zeigt, wie köstlich gesunde und nachhaltige Versionen des Mittagessens sein können, oder auf einem Bauernhof, der lokale Gemeinden mit frischen Produkten versorgt und ihnen zeigt, wie man diese zubereitet. Auf diesem Wege tragen Teaching Kitchen auch zur Stärkung von Quartieren und zu sozialer Gesundheit bei.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
PD Dr. med. Thomas Ellrott
Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen/Universitätsmedizin
Humboldtallee 32
37073 Göttingen
Tel.: +49 551 3967510
thomas.ellrott@med.uni-goettingen.de
MSc Nicola Rosenau
Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen/Universitätsmedizin
Humboldtallee 32
37073 Göttingen
Tel.: +49 551 3967510
tnicola.rosenau@med.uni-goettingen.de
Uwe Neumann, Nachhaltigkeitspädagoge
Vorstand Culinary Medicine Deutschland e. V.
Zur Quelle 2a
448341 Altenberge
Telefon +49 541 347513-10
uwe.neumann@culinarymedicine.de
www.culinarymedicine.de
Weitere Informationen:
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)31788-4 [1]
https://s.gwdg.de/9bPK3u [2]
https://sdgs.un.org/goals [3]
https://s.gwdg.de/GkN5GI [4]
https://s.gwdg.de/o2kCur [5]
https://s.gwdg.de/9ZQind [6]
https://tkresearchconference.org [7]
https://idw-online.de/en/news787741 [8]
https://idw-online.de/de/news767487 [9]
https://idw-online.de/de/news797861 [10]
https://s.gwdg.de/eGNPUL [11] Video
https://idw-online.de/en/news768763 [12]