ME/CFS: „Wir brauchen groß angelegte, interdisziplinäre ME/CFS-Verbundforschungsprojekte“
ME/CFS ist eine rätselhafte Erkrankung, die mit viel Leid für die Betroffenen einhergeht. Wenig ist bekannt über die Ursachen und Entstehungsmechanismen, es gibt keinen Biomarker für die sichere Diagnose, geschweige denn evidenzbasierte Therapien. Die Regierungsparteien haben sich die Erforschung auf die Fahnen geschrieben; mit der Förderung einzelner Therapiestudien in der Hoffnung, einen Zufallstreffer zu landen, ist es aber wahrscheinlich nicht getan. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie fordert groß angelegte, interdisziplinäre ME/CFS-Verbundforschungsprojekte, um systematische Grundlagen- und Therapieforschung betreiben zu können.
Betroffene mit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/„Chronic Fatigue Syndrome“) werden in vielen Bereichen der Medizin betreut. Durch die aktive Arbeit von Patientenverbänden ist die Erkrankung zu einem Thema in den Medien geworden und wird in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Diese Diskussion hat auch die Politik erreicht. Im Koalitionsvertrag von 2021 hatten die Regierungsparteien verabredet, für die „Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von COVID-19 sowie für das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen“ zu schaffen.
Bevor jedoch die bestmögliche Versorgung diskutiert werden kann, müsse zunächst die Krankheit erforscht werden, erklärte Prof. Dr. Harald Prüß, Berlin, Sprecher der DGN-Kommission „Neuroimmunologie“, auf der Pressekonferenz der Neurowoche. „Wir kennen die Pathomechanismen nicht, die zur Entstehung führen, wissen wenig darüber, welche Risikofaktoren es gibt, wie viele Menschen überhaupt betroffen sind, haben keine zuverlässigen Tools, um eine gesicherte Diagnose zu stellen – und können daher auch noch nicht an kausalen Therapien arbeiten. Sprich: Wir stehen erst am Anfang.“
Viele Betroffene und ihre Angehörigen beklagen, dass die Diagnose ME/CFS dramatisch unterdiagnostiziert und als Erkrankung vernachlässigt worden sei. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die ME/CFS sogar grundsätzlich in Frage stellen. Gründe dafür sind:
- Es gibt bisher keine eindeutigen Biomarker der Erkrankung, sie ist weder mit Bluttests noch mit bildgebender Diagnostik „fassbar“.
- Das Beschwerdebild ist sehr heterogen – die Symptome reichen von Fatigue über Schmerzen, Schlafstörungen, Gedächtnisstörungen bis zu grippeähnlichen Beschwerden, und bei Kindern auch zu „Schulschwierigkeiten“, oft sind Symptomkomplexe auch diffus.
- Es gibt zahlreiche Überlappungen mit Erkrankungen aus der Rheumatologie, Endokrinologie, Psychiatrie, Neurologie, Infektiologie, Gastroenterologie und anderen Fachbereichen.
- Oft liegen vorbestehende neuropsychiatrische Erkrankungen vor
- Die vorliegenden Studien zur Häufigkeit von ME/CFS haben oft große methodische Mängel, die ihre Aussagekraft mindern. Dazu zählen u. a. heterogene Populationen, fehlende oder problematische Kontrollgruppen und unterschiedliche Zeitfenster. Oft liegt ein sog. „Recall Bias“ (Erinnerungsverzerrung) bei den befragten Betroffenen vor, die Symptome wurden nicht objektiviert erfasst oder andere Erkrankungen wurden nicht klar abgegrenzt.
„Diese Schwierigkeiten sind aber letztlich kein Grund, an der Existenz der Erkrankung zu zweifeln – auch wenn es natürlich eine extreme wissenschaftliche Herausforderung ist, eine solch heterogene und nicht klar abgrenzbare Erkrankung zu erforschen. Hier bedarf es interdisziplinärer Grundlagenforschung, und die Politik muss nun auch Mittel für fächerübergreifende Großprojekte bereitstellen, um ihr Koalitionsversprechen zu halten“, sagt der Experte.
Neben der Neurologie, in deren Spektrum die Erkrankung klinisch einzuordnen ist, da die Hauptsymptome neurologisch sind, müssen weitere Disziplinen gemeinsam an der Erforschung arbeiten, allem voran die Immunologie und die Virologie. „Neurologinnen und Neurologen sind post-virale Beschwerden inklusive Fatigue, z.B. nach EBV-Infektion/Pfeifferschem Drüsenfieber oder FSME, gut bekannt. Letztlich sehen wir sie auch nach COVID-19, wo wir u.a. bestimmte Immunreaktionen durch Autoantikörper vermuten“, erklärt Prof. Prüß. „Die Multiple Sklerose als wichtige neuroimmunologische Erkrankung mit Fatigue als häufigem Begleitsymptom wird offensichtlich durch das Epstein-Barr-Virus (EBV) mitausgelöst, und dies stärkt die Hypothese, dass auch der ME/CFS eine Virusinfektion vorausgehen könnte. Womöglich kann auch SARS-CoV-2 eine ME/CFS katalysieren. Doch all das sind bislang noch Spekulationen – wir brauchen groß angelegte, interdisziplinäre ME/CFS-Verbundforschungsprojekte.“
Das dringlichste Forschungsziel sei die Erforschung von Biomarkern, um eine gesicherte Diagnose stellen zu können. Außerdem muss verstanden werden, wie die Krankheit entsteht und sich entwickelt. „Nur wenn wir die Pathogenese kennen, können wir Therapien entwickeln, die an der Ursache ansetzen.“
Der hohe Leidensdruck der Betroffenen hat dazu geführt, dass vielerorts die Grundlagenforschung übersprungen wird und ganz pragmatisch erste Therapiestudien aufgelegt wurden. Basis eines Ansatzes ist die Hypothese, dass ME/CFS autoantikörpervermittelt ist, und eine Therapie zielt darauf ab, die Autoantikörper aus dem Blut der Betroffenen zu „waschen“. Ein solche Studie zur sogenannten Immunadsorption bei ME/CFS und Post-COVID-Fatigue führt auch Prof. Prüß im Verbund mit anderen Fachdisziplinen durch, gefördert durch das BMBF. Um die Wirksamkeit der Therapie beurteilen zu können, erfolgt die Studie randomisiert, d.h. in der einen Patientengruppe wird diese spezielle Blutwäsche durchgeführt und in der anderen eine „Scheinprozedur“ (das Blut läuft durch die Maschine, wird aber nicht gefiltert). „Dadurch, dass die Studienteilnehmenden nicht wissen, ob sie eine Apherese erhalten haben oder nicht, versuchen wir, einen Placeboeffekt auszuschalten“, erklärt der Experte. „Außerdem nutzen wir diese Studie für ein intensives Suchprogramm nach Biomarkern, sowohl nach immunologischen als auch in der Bildgebung. Wir hoffen, dass wir eine Auffälligkeit im Blut oder in der Bildgebung finden, die typisch für die Erkrankung ist und mit der wir zukünftig Betroffene sicher diagnostizieren können.“ Deutschlandweit laufen derzeit auch Studien zu anderen Therapien, beispielsweise zu Immuntherapien, Steroiden und Antipsychotika. Auch wenn der Wissenschaftler das Pferd von hinten aufgezäumt sieht, hofft er, dass sich eine der Therapieoptionen als erfolgreich erweist: „Die Patientinnen und Patienten sind verzweifelt.“
Die bisherigen Behandlungsoptionen sind unzureichend. Im Frühjahr 2021 hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Auftrag erteilt, den aktuellen Kenntnisstand zur ME/CFS zusammenzutragen. Als Behandlungsoption gibt der Bericht [1] nur eine sehr vage Empfehlung für die sogenannte Graded Exercise Therapy (GET) und die kognitive Verhaltenstherapie. „Letztere wird von Betroffenen oft vehement abgelehnt, weil sie Sorge haben, dass ihre Erkrankung als psychisch missverstanden wird. Das ist aber nicht der Fall. Solche Therapien werden auch bei anderen Erkrankungen, wo gezieltere Behandlungsansätze fehlen, z.B. bei chronischen Schmerzsyndromen, begleitend eingesetzt. Sie helfen den Betroffenen, besser mit der Erkrankung zu leben („coping“) und führen so zu einer besseren Lebensqualität, auch wenn sie per se nichts an der Krankheit ändern.“
[1] https://www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_79936.html
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